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Liebe Leserinnen, liebe Leser!


wenn ich Sie richtig einschätze, ist Ihre erste Reaktion, wenn ein Politiker nach einem Anlassfalls härtere Strafen bzw. eine Ausweitung des Strafrechts fordert, zunächst einmal: blanke Abwehr. Weil es verdächtig nach Showpolitik riecht, weil es wirkt, als ob ihm die Ideen ausgegangen sind, weil das Strafrecht nun einmal das schärfste Instrument ist, das unserem Staatswesen zur Verfügung steht – und gleichzeitig ein stumpfes, weil Gefängnisstrafen auf individueller Ebene bei weitem nicht immer zu einer Besserung führen. 

So ungefähr war auch mein erster Impuls, als ich am Samstag gelesen habe, dass ÖVP-Chef Karl Nehammer die „Strafmündigkeit von Jugendlichen“ anlässlich eines schweren Missbrauchsfalls unter Minderjährigen zum Thema machen will: „Die Wehrlosigkeit des Rechtsstaats gegenüber solchen Verbrechen ist unerträglich!“, schreibt Nehammer auf Twitter. Zur Diskussion steht für die ÖVP unter anderem das Absenken der Grenze der Deliktsfähigkeit von 14 auf zwölf Jahre.

Mehr jugendliche Straftäter
Wie gesagt, erster Impuls: falsche Reaktion, falsche Maßnahme. Dann habe ich mir ein wenig die Zahlen angeschaut – konkret jene zur Jugendkriminalität in den vergangenen Jahren. Die gibt es öffentlich im Statistik&Analyse-Teil des jährlichen Sicherheitsberichts von Innen- und Justizministerium, die noch nicht veröffentlichten 2022er-Zahlen hat mir das Bundeskriminalamt geliefert, jene für 2023 werden noch zusammengetragen.
 
 
 
 
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Die Lage ist so: Binnen dieser zehn Jahre sehen wir einen deutlichen Zuwachs bei der Zahl der ausgeforschten jugendlichen Straftäter: 2013 waren das 30.559 ermittelte Verdächtige unter 18 Jahren, 2022 waren es 44.383. Das läuft dem rückläufigen Gesamttrend der Kriminalstatistik in diesem Jahrzehnt zuwider – 2022 wurden rund 490.000 Straftaten angezeigt, 2013 waren es noch knapp unter 550.000.
Besonders stark ist der Zuwachs in der Altersgruppe zwischen zehn und 14 Jahren: Hier wurden 2022 9.543 Tatverdächtige ermittelt, doppelt so viele wie noch 2013 (4.821). 

Jetzt ist das kein Grund, panisch zu werden – in einem Vergleich über Jahrzehnte ist Österreichs Jugend noch immer relativ gesittet. Außerdem verweist das Bundeskriminalamt darauf, dass in dieser Zeit erstens das Dunkelfeld geschrumpft sei, weil z. B. Lehrer inzwischen sensibilisiert für Gewalt, Drohungen usw. sind und schneller anzeigen. Andererseits sind besonders im Feld der Computerkriminalität – Stichwort Verschicken von Nacktaufnahmen von Minderjährigen, Drohungen im Internet usw. – neue Straftaten bzw. Möglichkeiten dazugekommen, sich strafbar zu machen. Und drittens sei insgesamt die Aufklärungsquote gestiegen, was wiederum in mehr Tatverdächtigen mündet.

Taugt die Schweiz als Vorbild?
Trotzdem ist das gerade bei Unter-14-Jährigen eine bemerkenswerte Steigerung; eine, die der Staat nicht tatenlos hinnehmen sollte. Schon vor Bekanntwerden des eingangs erwähnten Missbrauchsfalls hat sich in Wien eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zusammengefunden, die neue Strategien erarbeiten soll, mit Polizei, Justiz, Magistrat, Jugendzentren usw.

Es wäre sinnvoll, wenn an diesem Prozess auch die Bundespolitik in Gestalt von Innen-, Justiz-, Bildungs- und Familienministern teilnehmen würde. Und dabei soll ruhig auch darüber diskutiert werden, ob eine niedrigere Grenze für die Deliktsfähigkeit – in der Schweiz liegt sie etwa bei zehn Jahren – nicht sinnvoll sein könnte. Und zwar nicht, um die Gefängnisse mit Kindern zu füllen, sondern um dem Staat mehr „ultima ratio“-Möglichkeiten zu geben, wenn jene der Jugendämter nicht mehr ausreichen, die bisher nur resigniert in Akten empfehlen können, eben bis zum 14. Geburtstag zu warten, damit dann Staatsanwälte und Richter eingreifen können.

Eine solche Maßnahme darf natürlich nicht in einem Vakuum stehen – das wäre dann tatsächlich nur Show. Ein vernünftiges Gesamtpaket könnte etliche abrutschende Existenzen gerade noch rechtzeitig auf den richtigen Weg bringen. Das braucht neben angepassten Strafrecht auch mehr Mittel für Prävention, Jugendstrafvollzug und Resozialisierung. Und man sollte darüber nachdenken, ob der 2003 abgeschaffte Jugendgerichtshofs, wo neben spezialisierten Juristen auch Sozialarbeiter, Pädagogen und Therapeuten tätig waren, gerade i dieser Situation nicht ein beeindruckendes Kompetenzzentrum sein könnte.

So ein Rechtsstaat wäre nämlich eigentlich alles andere als hilflos - wenn es den politischen Willen dazu gibt.


Mit besten Grüßen,
Ihr Georg Renner
 
 
 
 
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