Wieder wild

Wisente wurden vor knapp hundert Jahren fast vollständig ausgerottet. Bis heute laufen aufwendige Zucht- und Auswilderungsprogramme. Warum das nicht nur für die Rinderart gut ist, sondern auch für Artenvielfalt und Klima.

DATUM Ausgabe Juli/August 2023

Staub wirbelt auf, als Peter Nitschke mit seinem Geländewagen über den holprigen Weg rollt. Eine dunkle Schicht legt sich auf den weißen Nissan. Nitschke steuert geradewegs auf ein breites Stahltor zu. Direkt dahinter versperren ein zweites Tor und ein Elektrozaun den Weg. Der doppelte Zaun umgrenzt hier mitten in Brandenburg ein riesiges Gebiet von fast 2.000 Hektar Größe, auf dem einst Sprengkörper explodierten, Panzer rollten und mit scharfer Munition geschossen wurde. Heute soll der Zaun wild lebende Tiere drinnen halten – und Menschen draußen.

Nitschke stoppt den Wagen, setzt seine Sonnenbrille auf und steigt aus. Der gelernte Forstingenieur geht auf den ersten Blick als Naturschützer durch: weiße, kurze Haare, Halskette, zwei Ringe im linken Ohr, dunkelgrünes T-Shirt mit der Aufschrift ›HYGGE‹ und Raucher. Filterlos, versteht sich. Nitschke ist Leiter der Döberitzer Heide, früher Truppenübungsplatz, heute großes Naturschutzgebiet der Heinz-Sielmann-Stiftung, direkt vor der Westgrenze Berlins. Die Kernzone ist streng abgeriegelt, niemand ohne Schlüssel hat Zutritt. Nitschke öffnet das Schloss am ersten Stahltor und zieht es auf, danach das zweite Tor, und schließlich hängt er die quer gespannten, spiralförmigen Drähte, durch die der Strom fließt, aus ihrer Halterung. Auch Nitschke betritt die Kernzone selten, heute aber will er eine Kontrollfahrt machen – und er hofft, etwas zeigen zu können, was weltweit eine große Seltenheit geworden ist: eine Herde von Wisenten, der größten Säugetierart Europas.

Der Wisent, auch Europäischer Bison genannt, ist eine Rinderart, die vor knapp hundert Jahren durch Lebensraumverlust, Seuchen und Jagd fast vollständig ausgerottet wurde. Das letzte wilde Tier wurde im Jahr 1927 im Kaukasus erlegt. Nur wenige Exemplare in Zoos und Gehegen blieben übrig. Damals hätte die Welt beinahe eine ganz besondere Art verloren. Der Wisent ist nämlich nicht irgendein Tier, sondern eine Schlüsselspezies. Das heißt, er erfüllt zahlreiche ökologische Funktionen und ist damit elementar für das Gleichgewicht der Ökosysteme, in denen er lebt. 

Und heute, in Zeiten, in denen das sechste große Massenaussterben droht, könnte die Bedeutung des Wisents nicht größer sein. Das zeigt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie im Auftrag des UN-Umweltprogramms. Demnach würde es ausreichen, 20 Arten großer Säugetiere wieder dort auszuwildern, wo sie einst heimisch waren. Kehren sie in die Wildnis zurück, würde das dazu beitragen, dass sich weltweit Ökosysteme wieder erholen, massiv CO2 gebunden wird und sich viele andere Spezies wieder ausbreiten. Unter diesen 20 Schlüsselarten: Wölfe, Bären, Biber und – genau – Wisente. Wie ihr Einfluss auf Ökosysteme genau aussieht, auch das will Nitschke heute zeigen.

Seitdem das letzte wilde Wisent geschossen wurde, laufen zahlreiche aufwendige Zuchtprogramme und Aus­wilderungsprojekte, um die Art zu erhalten. In Deutschland gab es seither aber nie wieder wild lebende Wisente. Weltweit leben heute zwar wieder rund 9.000 Wisente in Zoos, Gehegen und freier Wildbahn – sie stehen damit kurz vor einem stabilen Weltbestand, der laut Nitschke mit 10.000 Tieren erreicht sei. Der Weg dorthin durch Zucht und Auswilderung ist aber aufwendig und das Konfliktpotenzial groß. Das Überleben der Spezies ist also noch längst nicht abgemachte Sache. 

Nitschke fährt langsam über den holprigen Boden in der Döberitzer Heide. Das überwiegend offene Land in der Kernzone ist mehr als fünfmal so groß wie die Donauinsel. Ein weitläufiges Gebiet also. Nitschke kann nicht versprechen, dass sich die Wisente heute zeigen. Offenlandschaften, also hauptsächlich waldfreie Gebiete wie die Döberitzer Heide, verändern sich mit der Zeit, wenn sie sich selbst überlassen bleiben: Sie verbuschen zunehmend, bis sie sich schließlich in einen Wald verwandeln. Ziel der Heinz-Sielmann-Stiftung ist es, das zu verhindern. Denn in einem offenen Lebensraum herrsche eine beeindruckende Artenvielfalt, sagt Nitschke. ›Im Gegensatz zu Waldgebieten leben hier deutlich mehr Arten und vor allem viele seltene und bedrohte Pflanzen, Pilze und Tiere.‹

In der Döberitzer Heide seien derzeit 6.250 Arten nachgewiesen, sagt Nitschke. Darunter etwa 2.000 Käfer-, über 1.000 Groß- und Kleinschmetterlings- und rund 900 Pflanzenarten, außerdem zahlreiche Vogelarten, Urzeitkrebse, Rotbauchunken, Wildbienen, Wölfe und natürlich: die großen Pflanzenfresser, also Przewalski-Pferde, Rothirsche und Wisente.

Durch ihr Trampeln und Fressen helfen Wisente und die anderen Pflanzenfresser dabei, das Land offen zu halten. Sie fressen invasive Pflanzenarten wie Robinie oder Spätblühende Traubenkirsche, die sich sonst rasch verbreiten und andere Arten verdrängen würden. Sie schälen und fressen aber auch die Rinde von Bäumen. Nitschke deutet auf einen Baumstamm mit etwa tellergroßem Umfang. Solche Bäume könnten Wisente mit ihrer Brust problemlos umdrücken, um an das Laub zu kommen. 

Die ersten Wisente, die in die Döberitzer Heide kamen, stammten aus verschiedenen Zoos und Gehegen aus Deutschland. Sie wurden zunächst in einem Schaugehege gehalten und gezüchtet, bevor sie schließlich in die Kernzone ausgewildert wurden, wo sie sich seither selbst versorgen und weiter vermehren. Für die Zucht werden die Tiere penibel genau nach ihrer Genetik ausgewählt. Denn alle heute lebenden Wisente gehen auf nur zwölf Gründertiere zurück. Da muss weitere Inzucht so gut es geht vermieden werden, um die extreme genetische Verarmung nicht zu verschlimmern. Die kann nämlich zu Fehlbildungen führen und die Tiere anfällig für Krankheiten machen. Eine Bedrohung für das Überleben der Spezies.

Als Nitschke um eine Kurve fährt, sieht er sie schon von Weitem: Da vorne, in einer kleinen Gruppe, stehen sie, die großen Vierbeiner. Acht Wisente mit braunem, wuscheligem Fell, gekrümmten Hörnern und muskulöser Brust. Nitschke fährt langsam näher, die Tiere bleiben unbeeindruckt stehen, ein paar heben den Kopf. 

Unter ihnen ist ein Bulle, er überragt die sieben Kühe und Jungtiere deutlich. Ausgewachsene Bullen werden eine ganze Tonne schwer und erreichen bis zu zwei Meter Schulterhöhe und drei Meter Länge. Trotz ihrer gewaltigen Erscheinung strahlt die Herde Ruhe und Behäbigkeit aus. ›Toll, oder?‹, sagt Nitschke. Er stoppt den Wagen und steigt aus, um ein Foto zu machen. Doch da traben die Tiere davon und hinterlassen eine große Staubwolke.

In der Döberitzer Heide leben etwa hundert Wisente. Zahlreiche andere Arten sind von ihrem Verhalten abhängig. Wisente schaffen Korridore für Insekten, Spinnen und Reptilien sowie Nistmöglichkeiten für Wildbienen. Sie sorgen für Totholz in Wäldern, das Lebensraum für viele Arten bietet. Sie verbreiten Pflanzensamen über ihr Fell. Und ihr Dung wirkt wahre Wunder. Er zieht eine ganze Artengemeinschaft an: Käfer, Fliegen, Schmetterlinge, Würmer, Pilze. In der Döberitzer Heide habe man 36 bedrohte Dung-Käferarten nachgewiesen, sagt Nitschke. Auch die Punktierte Porenscheibe, einen Pilz, der in Brandenburg deutlich mehr als hundert Jahre lang verschollen war, habe man kürzlich wiederentdeckt. Die langfristige Hoffnung sei, dass viele hier lebende Arten über die Döberitzer Heide hinaus neue Lebensräume erobern. Und die Wisente? Ob sie jemals irgendwo im Land wieder komplett wild werden leben können? 

Die ersten Auswilderungen von Wisenten gab es schon in den 1950er-Jahren. Seither wurden die Tiere zum Beispiel in Polen, Weißrussland, der Slowakei und Rumänien wieder angesiedelt. Nicht weit entfernt von der Döberitzer Heide, im Berliner Tierpark, werden solche Projekte maßgeblich vorangetrieben. Seit einigen Jahren läuft ein Auswilderungsprogramm in den Kaukasus: In mehreren Runden werden Wisente aus ganz Europa im Tierpark gesammelt und schließlich nach Aserbaidschan ausgeflogen, wo gute Umweltbedingungen und große Akzeptanz in der Bevölkerung herrschen. Das nächste Mal fliegen wieder im November zehn Wisente nach Baku.

Und Deutschland? Schwierig. Das zeigt sich am Beispiel des Rothaargebirges in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde 2013 versucht, eine achtköpfige Herde auszuwildern. Einige Jahre später war die Herde bereits auf 25 Tiere angewachsen. Doch die Tiere machten sich immer wieder an Bäumen zu schaffen, sie hinterließen erhebliche Schäden – und erzürnten damit die Waldbesitzer. Vor Kurzem musste der Verein, dem die Wisente gehörten, nach einem verlorenen Rechtsstreit das Projekt und das Monitoring einstellen. Was mit den Tieren jetzt passiert, ist noch unklar.

Tragischer noch ist die Geschichte, die sich 2017 zugetragen hat. Damals überquerte ein Bulle, der mehrere Jahre in Polen in freier Wildbahn gelebt hatte, die Grenze nach Deutschland. Weil in Westpolen viele wilde Wisente leben, ist damit in Zukunft jederzeit wieder zu rechnen. Vorbereitet war man damals aber nicht. Die Menschen waren verunsichert, die Behörden überfordert. Nach kurzer Zeit wurde das Tier auf behördliche Anordnung hin erschossen. In Polen war die Aufregung groß, auch bei Nitschke. ›Ich war sauer‹, sagt er. ›Aber ich kann die Angst der Leute auch verstehen. Ich denke, die Behörden hätten sich Hilfe von Experten holen sollen.‹ Auch Nitschke will künftige Auswilderungsprojekte unterstützen und dafür Wisente aus der Döberitzer Heide zur Verfügung stellen. Doch dass Wisente in Deutschland bald wieder komplett wild leben werden, da ist Nitschke nur ›semi-optimistisch‹. Damit das gelingt, müssten generell mehr freie Flächen für den Naturschutz bereitgestellt werden, sagt er. Und es bräuchte einen Bewusstseinswandel bei der Bevölkerung, die Menschen müssten wieder mehr Natur zulassen.

Wirklich wilde Natur wäre dann vielleicht auch möglich, ohne sie hinter großen Zäunen zu verstecken. Sinnvoll wäre es, jedenfalls für den Erhalt der größten Säugetierart Europas, aber auch für den Erhalt offener Lebensraumtypen, für den Klimaschutz und für das Überleben zahlreicher selten gewordener Tier- und Pflanzenarten.