In Vitro für Löwen

In einem Forschungsinstitut in Berlin werden Proben zahlreicher Tierarten in Tanks bei minus 196 Grad konserviert. Die Sammlung soll helfen, hoch bedrohte Arten vor dem Aussterben zu bewahren.

DATUM Ausgabe November 2023

Der dunkelgraue Bau ist unscheinbar, nicht mehr als ein kleiner Betonklotz zwischen ein paar Institutsgebäuden, irgendwo im Osten Berlins. Nichts deutet darauf hin, dass hier, hinter verschlossenen Türen, die vielleicht letzte Hoffnung für zahlreiche hoch bedrohte Tierarten liegt. 

Es ist Ende September, früher Abend. Jennifer Zahmel, Biologin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), geht die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf, sperrt auf und betätigt beim Hineingehen den Lichtschalter. Grelles Licht fällt in den Raum und verströmt eine sterile Krankenhaus-Atmosphäre. An der Decke verlaufen Lüftungsrohre, Fenster gibt es keine. 

Vor den gefliesten Wänden stehen, einer neben dem anderen, weiße, etwa ein Meter hohe Tanks. Die Tanks sind mit großen­ ­Ziffern versehen und mit einem dunkelblauen Deckel verschlossen. Im Inneren herrschen minus 196 Grad Celsius: Der Inhalt der Tanks wird mit flüssigem Stickstoff gefroren gehalten, so soll er über lange Zeit, theoretisch nahezu unbegrenzt, erhalten bleiben. Kryo­konservierung nennt man das.

In den Tanks, der sogenannten Bio-Kryobank des IZW, lagern lebende Proben von teils vom Aussterben bedrohten Tieren: von Säugetieren wie Nashörnern, Elefanten und Löwen bis hin zu Vögeln, Reptilien und Amphibien. Da sind zum Beispiel – sorgfältig verstaut in kleinen Reaktionsgefäßen – Keimzellen, Embryonen oder Gewebeproben von über 200 verschiedenen Arten. Alles, was die Forscher des IZW im Laufe der Jahre gesammelt und kryokonserviert haben. Ihr Ziel: gefährdete Arten und die biologische Vielfalt zu bewahren.

Da steckt sie nun in kleinen Gefäßen, die große Vielfalt des Lebens, eingelagert in Tanks mit flüssigem Stickstoff. Sieht so die letzte große Hoffnung für die vielen bedrohten Geschöpfe dieses Planeten aus?

Zahmel leitet am IZW das ›Felid Gametes Rescue Project‹. Das Ziel dieses Projekts ist es, die Gameten verschiedener Katzenarten zu bewahren. Gameten sind die Zellen, die zur Fortpflanzung dienen, also Spermien und Eizellen. Hauptsächlich werden Spermien und im Labor kultivierte Embryonen kryokonserviert – Eizellen eher nicht, da ist das nämlich nicht so einfach. In den 15 Jahren seit Bestehen des ›Felid Gametes Rescue Project‹ haben Zahmel und ihr Team Spermien von 65 Männchen sowie 114 Embryonen kryokonserviert. Diese Proben gehören zu insgesamt 28 verschiedenen Katzenarten oder Unterarten. Mit dabei: Afrikanische Löwen, Fischkatzen, Nebelparder, Asiatische Goldkatzen und verschiedene Leopardenarten.

Die Gameten sollen nicht nur aufbewahrt, sondern auch genutzt werden: für die assistierte Reproduktion bei Zoo-Tieren. So der Plan. Doch der Weg von der Kryokonservierung bis hin zur tatsächlichen Anwendung der Gameten ist weit.

Irgendwo in den Tanks der Bio-Kryobank lagern auch die Proben von verschiedenen Asiatischen Löwen. Auf diese Unterart legen Zahmel und ihre Kollegen momentan einen besonderen Fokus. Asiatische Löwen sind wie alle Spitzenräuber eine Schlüsselart, das heißt, sie sind für das Gleichgewicht der Ökosysteme, in denen sie leben, unerlässlich und damit von besonderer Bedeutung für Biodiversität und Klimaschutz. Asiatische Löwen sind seit Langem hoch bedroht und in der freien Natur selten geworden. Es gibt nur noch wenige hundert Tiere, die zudem alle im Nordwesten Indiens im Gir-Nationalpark leben, in einer einzigen Population. Das Problem: Die Population kann nicht weiter wachsen, da ihr der Platz fehlt. Laut Internationaler Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) fallen die Löwen außerdem immer wieder Wilderern zum Opfer oder ertrinken, weil sie in Brunnen fallen.
Noch dramatischer wäre es, würde eine Seuche oder ein ­großer Waldbrand ausbrechen. Da es nur diese eine Population gibt, könnte das schlimmstenfalls zum Aussterben der Art in freier Wildbahn führen.

Um an Proben zu kommen, ruft Zahmel die Zoos in ganz Europa auf, Hoden oder Eierstöcke umgehend zu ihr nach Berlin zu schicken, sobald eine Katze verstirbt oder kastriert werden muss. Vor knapp zwei Jahren stellte sie fest, dass auffällig viele Proben, die sie von Asiatischen Löwen bekommen hatte, kaum Spermien enthielten. Daraufhin startete sie ein neues Projekt: Der gesamte europäische Zoo-Bestand männlicher Asiatischer Löwen soll auf seine Fruchtbarkeit untersucht werden. 

Es ist Ende September, als Zahmels Kollegin Myriam Schröder, Tierärztin am IZW, zu einem Zoo in Süddeutschland aufbricht. Sie soll zwei Asiatische Löwen, neun Jahre alte Brüder, absamen und ihre Spermien nach Berlin bringen. ›Wir wussten vorher nicht, wie gut die Proben sein würden‹, sagt Schröder später am Telefon. Nachwuchs gebe es von beiden jedenfalls noch keinen.

Für die Samengewinnung werden die Tiere narkotisiert. Praktischer Nebeneffekt: Ein bestimmter Bestandteil der Narkose-Mischung setzt die Spermien aus dem Nebenhoden frei, die Spermien laufen quasi von alleine Richtung Harnröhre, wo man sie mit einem Katheter auffangen kann. Eine Alternative zum Nachhelfen ist die Elektroejakulation. Dafür wird dem Löwen eine Sonde ins Rektum eingeführt, die einen leichten Reizstrom auf die Prostata abgibt, sodass dort – wie bei einer gewöhnlichen Ejakulation auch – Kontraktionen entstehen und die Spermien Richtung Harnröhre gedrückt werden.

Schröder fängt die Spermien in körperwarmen Röhrchen auf und kühlt sie dann auf unter zehn Grad herunter. Anschließend muss die Temperatur möglichst konstant bleiben. ›Spermien sind sehr empfindlich‹, sagt Schröder. ›Schwankungen mögen die überhaupt nicht.‹ Nachdem sie die Proben in einer Kühlbox platziert hat, steigt sie ins Auto und fährt direkt zurück nach Berlin. Bei der Kryokonservierung kommt es nämlich auch auf Schnelligkeit an, je länger es dauert, desto schlechter für die Qualität. 

Am Abend desselben Tages empfängt Zahmel in ihrem Labor. Wenn Proben am IZW ankommen, dann landen sie hier, wo Zahmel zunächst ihre Qualität untersucht und beurteilt, ob sich eine Kryokonservierung lohnt. Hier hat sie zuvor auch die Proben der Asiatischen Löwen entgegengenommen und kryokonserviert. Jetzt demonstriert sie den Vorgang noch einmal. Sie zieht sich Handschuhe und Schutzbrille an, öffnet eine kleine Styropor-Kiste und befüllt sie mit flüssigem Stickstoff. Es knistert und Dampf steigt empor. Anschließend platziert Zahmel kleine Reaktionsgefäße in der Kiste, verschließt sie und wartet. Nach 15 Minuten füllt sie nochmal Stickstoff nach. Fertig. Die Proben sind bei minus 196 Grad kryokonserviert. 

Und jetzt? Wie lange überleben die konservierten Proben? ›Für immer‹, sagt Zahmel. Aber was hilft es, Spermien einer aussterbenden Tierart in einem Tank bei minus 196 Grad für immer einzulagern? ›In dem Moment, in dem ich die Proben kryokonserviere, habe ich genetische Vielfalt erhalten‹, sagt Zahmel. ›Aber das alleine nützt noch nichts.‹ 

Und hier kommt die assistierte Reproduktion ins Spiel. Das Nachhelfen bei der Fortpflanzung quasi. Und zwar mit Gameten von Tieren, die schon verstorben sind oder die zu Lebzeiten von alleine keinen Nachwuchs zeugen, etwa weil sie sich nicht vertragen. ›Zwei Tiere sind noch lange kein Paar‹, sagt Zahmel. ›Wir können uns aber nicht leisten, die Genetik dieser Tiere zu verlieren.‹

Mithilfe von Techniken der assistierten Reproduktion soll also die genetische Vielfalt, die in den Tanks des IZW schlummert, wieder in die lebende Population zurückgebracht werden. Zahmel zählt die wichtigsten Techniken auf: Da ist einmal die künstliche Besamung, quasi der Idealfall. Dafür wird Sperma aus der Bio-Kryobank geholt, mit in den Zoo genommen und vor Ort aufgetaut. Anschließend besamt man mit dem frischen Sperma das Weibchen, indem man die Probe mithilfe eines Katheters direkt in den Eileiter spritzt. 

Damit das hinhaut, braucht es aber viele Spermien von hoher Qualität. Nicht immer stehen solche Proben bereit. Enthält eine Probe nicht genug Spermien, können Zahmel und ihre Kollegen sie aber trotzdem noch nutzen – für die In-Vitro-Fertilisation. Dafür braucht es frische Eizellen, die zusammen mit dem aufgetauten Sperma in ein Glas kommen und so befruchtet werden. 

Wenn eine Probe so wenige Spermien enthält, dass diese es nicht von alleine schaffen würden, die Eizelle im Glas zu befruchten, können die Spermien auch direkt in die Eizelle injiziert werden. Dieses Verfahren wird Intra­zytoplasmatische Spermieninjektion, kurz ICSI, genannt. Die entstehenden Embryos können daraufhin kryokonserviert werden. Die Hoffnung dabei: Dass diese Embryos eines Tages in eine potenzielle Katzenmutter transferiert werden können. 

Häufig kommt das bislang allerdings nicht vor, die Anwendung ist kompliziert, die Methoden längst nicht vollständig etabliert. Alles muss zusammenpassen, es braucht passende Proben von hoher Qualität, es braucht eine potenzielle Mutter, es braucht die Kooperation der Zoos. In den 15 Jahren, in denen das ›Felid Gametes Rescue Project‹ besteht, wurde erst einmal ein Embryo-Transfer versucht.

Das war im Frühjahr dieses Jahres in Dänemark bei einer Langschwanzkatze, auch Margay genannt. Zahmel hatte kryokonservierte Embryonen dieser Art parat. Die Vorbereitungen gingen bereits ein Jahr zuvor los. Denn damit ein Transfer klappt, muss der richtige Zykluszustand der potenziellen Mutter abgepasst werden, was gar nicht so einfach ist. Die Biologie jeder Katzenart ist verschieden, jede Art hat unterschiedliche Zyklen, unterschiedliche Tragezeiten. Die Tierpfleger beobachteten das Margay-Weibchen genau, nahmen Videos auf und sichteten sie, immer Ausschau haltend nach Anzeichen für den richtigen Moment im Zyklus. Im Frühjahr 2023 war es soweit. Zahmel und Schröder schnappten sich die kryokonservierten Embryonen und reisten nach Dänemark.

Vor Ort untersuchte Schröder das Tier noch einmal, um sicherzugehen, dass das Timing auch wirklich passt. Dann taute sie die Probe auf und transferierte die Embryonen direkt in den Eileiter. Dieses Verfahren selbst sei gut erprobt, sagt Schröder. ›Die Embryonen waren innerhalb von Sekunden übertragen.‹ Alles hatte gut funktioniert. Jetzt blieb nur noch: Abwarten und hoffen, dass es auch wirklich zu einer Schwangerschaft kommt. 

Am Ende klappte es nicht. Potenzielle Mutter und Embryo hätten sich nicht erkannt, sagt Schröder. Dass man für einen Embryo-Transfer mehrere Versuche brauche, sei normal, sagt Zahmel. Durch die Kryokonservierung könnten die Chancen aber noch weiter sinken, wenn etwa die Proben Schaden nehmen.

Und bei den Asiatischen Löwen? Wenn sich künftig eine Gelegenheit bietet, werden es Zahmel und ihre Kollegen auch bei dieser Art versuchen. ›Letztlich geht es darum, die genetische Vielfalt der Zoo-Population zu erhalten‹, sagt Zahmel. Und die wiederum sei ein wichtiges Backup für die Freiland-Population. Zahmel hoffe, dass es zu einem Austausch zwischen beiden Populationen kommen kann, irgendwann. Momentan bestehen die Populationen isoliert voneinander. Ein genetischer Austausch könnte aber entscheidend sein für das Überleben der Art.

Ein Weg dorthin wäre, Asiatische Löwen auszuwildern. Das allerdings könnte schwierig werden, allein deshalb, weil Zoo-Tiere an Menschen gewöhnt sind und in freier Wildbahn zur Gefahr für die lokale Bevölkerung werden könnten. Das viel größere Problem aber: Es gibt schlicht keinen Lebensraum mehr. Die Population in Indien kommt jetzt schon an ihre Grenzen. Und an einem anderen Ort eine neue Population aufzubauen, ist in der Vergangenheit bereits gescheitert. Wenn aber keine Auswilderungen möglich sind und damit auch kein Austausch zwischen Zoo- und wilder Population – wozu dann die ganze Anstrengung?

Zahmel und ihr Team bauen darauf, dass sich die Situation bessert, dass es irgendwann vielleicht wieder mehr Platz für die Wildtiere gibt. ›Wir geben die Hoffnung nicht auf‹, sagt Schröder. ›Artenschutz hängt immer mit der Rettung dieser Erde zusammen‹, sagt Zahmel. ›Die Alternative wäre: Wir geben einfach auf. Dann würden wir unglaublich viele Arten verlieren.‹ •