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Die Klimakrise bedroht das Leben auf Pari. Bis 2050 könnte ein Großteil der Insel versunken sein. Vier Bewohner verklagen nun einen großen CO2-Verursacher, den Schweizer Zementkonzern Holcim.

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Übersetzung und Adaption:
Manuel Kronenberg & Katharina Brunner
DATUM Ausgabe Dezember 2022/Jänner 2023

Es ist abends im Dezember 2021, Arif Pujiyanto sitzt in seinem Haus am Bintang Beach auf der indonesischen Insel Pari, einem beliebten Urlaubsort etwa 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt Jakarta. Er versucht, sich nach seinem Arbeitstag zu entspannen, als er einen Nachbarn schreien hört. ›Das Meerwasser kommt! Das Meerwasser kommt!‹

Pujiyanto schnappt sich seine Sandalen und rennt aus dem Haus, da steht die Straße bereits knöcheltief unter Wasser. Die Flut überschwemmt die ganze Nachbarschaft. Innerhalb weniger Stunden reicht das Meerwasser bis zu seinen Knien, überflutet seine Küche, dann einen Großteil der Insel. Erst am frühen Morgen ebbt das Hochwasser wieder ab.

›In meiner Jugend war es ein schöner Moment, wenn nach der Ebbe das Wasser stieg, von allen freudig erwartet‹, sagt Pujiyanto. Heute arbeitet er als Schweißer, aber früher verbrachte er seine Tage damit, aufs Meer zu fahren und Zackenbarsche, Tintenfische und Garnelen zu fangen. ›Eigentlich ist es der perfekte Moment zum Fischen. Aber jetzt ist die Flut gegen uns.‹

Nicht nur die Hochwasser machen der Bevölkerung Paris zu schaffen, auch der Meeresspiegel bedroht das Leben auf der Insel. Er steigt und steigt und verschlingt zunehmend das Land. Umweltgruppen zufolge hat Pari Island in den vergangenen Jahrzehnten etwa fünf Hektar Land verloren. Bis 2050 könnte fast die gesamte Insel im Meer versunken sein. Aber die Menschen vor Ort wollen nicht einfach so aufgeben, nicht ohne vorher zu kämpfen.

Vier Bewohner der Insel haben sich zu einem wagemutigen Schritt entschieden. Sie verklagen den Schweizer Zementriesen Holcim, einen der größten Baustoffproduzenten der Welt. Sie fordern, dass das Unternehmen seine Emissionen drastisch reduziert und den Klägern Schadensersatz zahlt, etwa für zerstörte Häuser oder andere Schäden, die durch die Folgen des sich erhitzenden Klimas entstanden sind. Es ist der erste Fall, in dem Bewohner Indonesiens ein ausländisches Privatunternehmen in einem länderübergreifenden Verfahren verklagen. Er wird vor einem Gericht in der Schweiz verhandelt. Bis es dort zu einer Entscheidung kommt, könnten Monate vergehen.

Die Klage reiht sich ein in eine steigende Anzahl ähnlicher Fälle weltweit: Die Zahl der Klagen wegen Folgen von Klimakatastrophen hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt. Ein Bericht des Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment der London School of Economics von 2021 zeigt, dass es seither zu mehr als tausend solcher Fälle gekommen ist. 

Der Fall von Pari Island zeige auch, dass das öffentliche Bewusstsein vor Ort für die verheerenden Folgen des sich erhitzenden Klimas gestiegen sei, sagt Agung Wardana, Umweltrechtsexperte am Max-Planck-Institut für Internationales Recht in Heidelberg. Aber nicht nur das: Die Menschen wünschten sich laut Wardana endlich Gerechtigkeit.

›Dies wird ein richtungsweisender Fall für Indonesien sein‹, sagt er. ›Viele andere Länder könnten diesem Beispiel folgen und von den großen Umweltverschmutzern Rechenschaft verlangen.‹

Doch hat eine solche Klage überhaupt Aussicht auf Erfolg? ›Um den Fall zu gewinnen, wird eine Sache entscheidend sein‹, sagt Wardana. ›Und zwar: die Kausalität zwischen den Aktivitäten von Holcim und den Klimafolgen auf Pari Island zu belegen. Das ist die Herausforderung.‹

Indonesien, der größte Archipel der Welt mit mehr als 17.000 Inseln, ist mit am stärksten von der Klimakrise betroffen. Mehrere Inseln sind bereits versunken. Die indonesische Agentur für Forschung und Innovation geht davon aus, dass bis zum Jahr 2050 rund 115 Inseln überflutet sein werden. Sogar die Hauptstadt Jakarta droht zu versinken, weshalb auf der Insel Borneo eine neue Hauptstadt entstehen soll.

Auf der Insel Pari sind auch die Grundlagen für alle wichtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten gefährdet, darunter die Fischerei, aber auch die Algenzucht, die bis Anfang der 2000er-Jahre eine der größten Stützen der Wirtschaft der Insel war.

Asmania ist eine der Klägerinnen im Holcim-Fall. Sie erinnert sich daran, wie in den 1990er-Jahren getrockneter ­Seetang die Straßen säumte, bevor steigende Meerestemperaturen und Umweltverschmutzung die Ernten zer­stör­ten. ›Jetzt sind sie verschwunden und wir können sie nicht mehr nachwachsen lassen‹, sagt sie.

In den vergangenen Jahren hat der Tourismus die Lücke weitgehend geschlossen, die durch die Verluste entstanden ist. Jeden Monat besuchen durchschnittlich 2.000 Touristen die winzige Insel. In der Ferienzeit steigt die Zahl der Besucher beträchtlich an: Während des Zuckerfestes kommen mehr als 10.000 Menschen. So kommt es auch, dass die Wochenenden für den Fischer Edi Mulyono inzwischen die geschäftigste Zeit geworden sind. Mulyono und seine Frau bieten Touren rund um die Insel an und vermieten Gästehäuser sowie Schnorchelausrüstung und Boote.

›Es war bislang immer ein gutes Geschäft‹, sagt Mulyono. ›Wir verwalten alle touristischen Attraktionen auf Pari Island selbst, ohne die Hilfe der Regierung. Aber das Geschäft ist bedroht, da viele Gäste ihre Reise absagen, wenn das Meerwasser in die Siedlungen steigt.‹

Mulyono hat beobachtet, dass die Gezeiten sich stark verändern und die Fluten seit 2019 immer höher gestiegen sind. In einigen Gegenden der Insel erreicht das Hochwasser inzwischen fast einen Meter und wird immer schwieriger vorherzusagen. 

Auch die Wetterverhältnisse ändern sich, sie erschweren den Fischfang und zwingen die Fischer, weit mehr als 20 Kilometer hinauszufahren, um einen guten Fang zu machen.

›Unsere Vorfahren kannten die Jahreszeiten gut und orientierten sich an der Windrichtung. So konnten sie verlässlich einschätzen, wann die beste Zeit war, um fischen zu gehen‹, sagt Mulyono. ›Aber jetzt ist der Wind unberechenbar geworden.‹ Es sei nicht ungewöhnlich, dass sie mit leeren Händen nach Hause kommen.

Obwohl die 1.400 Bewohnerinnen und Bewohner auf Pari schon seit vielen Jahren mit diesen zunehmenden Herausforderungen zu kämpfen haben, dämmerte der Gemeinschaft erst 2021 so richtig: Es sind vor allem die Klimakrise und deren Verursacher, die ihr Leben auf der Insel bedrohen. 

Damals fand ein Gemeindetreffen mit dem Indonesischen Umweltforum (WALHI), einer Nichtregierungsorganisation, statt. Während der Diskussion präsentierten Forscher und Aktivisten von WALHI Daten zum Anstieg des Meeresspiegels und stellten den Zusammenhang her: Die CO2-Emissionen großer multinationaler Unternehmen bedrohen die Zukunft ihrer Insel.

Unterstützt von der Nachbarschaft und gewappnet mit diesen Informationen schlossen sich vier Inselbewohner im Juli dieses Jahres mit WALHI, mit dem Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte sowie mit dem Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) zusammen, um rechtliche Schritte gegen den Zementriesen Holcim einzuleiten.

Holcim gehört neben Öl- und Gaskonzernen wie Shell, BP, Anadarko und anderen zu den hundert größten Umweltverschmutzern der Welt, den so genannten Carbon Majors. Mit Niederlassungen in über 90 Ländern hat Holcim laut einer Studie des Climate Accountability Institute zwischen 1950 und 2021 mehr als 7,1 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid ausgestoßen. Seit 2001 ist das Unternehmen auch in Indonesien tätig. Damals übernahm Holcim den nationalen Zementhersteller Semen Cibinong.

›Immer wieder wird gefragt: Warum Holcim?‹, sagt Puspa Dewy, Leiter der Forschungs- und Rechtsabteilung von WALHI. ›Ganz einfach: Weil die Zementindustrie der drittgrößte Umweltverschmutzer ist, nach Öl und Gas. Holcim ist heute der größte Zementhersteller der Welt, deshalb fordern wir, dass sie ihre Emissionen drastisch senken.‹

Die Klägerinnen wählten Holcim auch aus pragmatischen Gründen. WALHI arbeitet seit vielen Jahren mit der schweizerischen Organisation ›Brot für alle‹ zusammen, die im vergangenen Jahr mit HEKS fusionierte: Brot für alle, heute HEKS, unterstützt vor Ort bei der Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen wie dem Pflanzen von Mangroven und dem Bauen von Dämmen. ­Deshalb fiel bei der Suche nach Verantwortlichen für die Klimaschäden der Blick schnell auf die Schweiz – und damit auf Holcim, Zement-Weltmarktführer und bei Weitem der größte schweizerische CO2-Emittent.

Die Forderungen sind nicht aus der Luft gegriffen, im Gegenteil: Es gibt andernorts bereits vergleichbare Fälle. Laut Wardana, dem Umweltrechtsexperten des Max-Planck-Instituts, ähnelt der Fall Pari der Klage eines peruanischen Landwirts. Im Jahr 2015 klagte Saúl Luciano Lliuya gegen den deutschen Energiekonzern RWE, weil sein Haus Gefahr läuft, so argumentiert er, von einem überlaufenden Gletschersee überflutet zu werden. Noch heute ist die Klage nicht endgültig abgeschlossen.

In einem vergleichbaren Fall wurde bereits entschieden. Nachdem die Umweltschutzorganisationen Milieudefensie und Greenpeace gegen Shell klagten, ordnete im Mai 2021 ein Bezirksgericht in Den Haag an, dass Shell seine weltweiten Kohlendioxidemissionen bis 2030 um 45 Prozent reduzieren muss. Es war das erste große Urteil weltweit in einem Klimaprozess gegen ein Unternehmen.

Die Kläger der Insel Pari fordern, dass Holcim seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 43 Prozent und bis 2040 um 69 Prozent senkt. Darüber hinaus fordern sie für jeden Kläger eine Zahlung von rund 3.300 Dollar für psychische und materielle Schäden. Holcim weist die Forderungen der Kläger zurück. Das Unternehmen erklärt, dass es den Klimawandel sehr ernst nehme, seinen Fußabdruck in den vergangenen zehn Jahren erheblich reduziert habe und bis 2030 weiter reduzieren wolle. Im Oktober endete die obligatorische Schlichtungsphase. Da keine Einigung erzielt werden konnte, ist laut Parid Ridwanuddin von WALHI der nächste Schritt ein Zivilgericht.

Der Fischer Mulyono hofft, dass ein Sieg vor Gericht nicht nur Holcim, sondern auch andere große Umweltverschmutzer unter Druck setzen wird, ihre globalen Emissionen herunterzufahren. Er und seine Nachbarschaft wollen nicht mehr mit der Angst leben, bald ihre Insel zu verlieren, sagt er.

Lokale Umweltschützer hoffen ebenfalls auf eine Wirkung über die Inselgrenzen hinaus: Wenn die Notlage von Pari Island bekannt wird, erinnere man sich vielleicht auch in Jakarta, wie sehr die Zeit beim Klimaschutz drängt. Die Nähe von Pari Island zur Hauptstadt Jakarta, sagt Ridwanuddin, ›sollte der Regierung eine Warnung sein, dass sich die Klimakrise schon jetzt direkt vor der Haustür auswirkt.‹ Und dennoch: Es könnte viele Monate dauern, bis die Klage von Holcim vor Gericht geklärt ist. In der Zwischenzeit packt die Bevölkerung von Pari selbst an und leistet ihren Beitrag zur Milderung der Klimafolgen. 

Asmania und viele andere haben eine lokale Initiative zur Pflanzung von Mangroven ins Leben gerufen. Diese Baum- und Straucharten können ganze Wälder zwischen Meer und Land bilden und sichern die Küsten dank ihres speziellen Wurzelwerks vor Erosion, schützen vor dem Eindringen des Meerwassers und bieten zahlreichen Tierarten idealen Lebensraum. 

In den vergangenen zwei Jahren hat die Initiative bereits an drei Stränden Tausende von Mangroven gepflanzt. Von den bestehenden Bäumen wollen sie künftig die Samen sammeln und noch viele weitere pflanzen.

›Wir bieten auch Touristen für eine kleine Geldspende an, gemeinsam mit uns Mangroven zu pflanzen‹, sagt Asmania. ›Das ist ein guter Weg, um bei ihnen das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie dringend und wichtig es ist, diese Insel zu schützen.‹ •