Aus der Opferzone

Jahrzehntelang belastete der Kupferabbau die Bucht von Quintero-Puchuncaví in Zentralchile. Nun kündigt die Regierung an, eine der Kupferproduktionsstätten zu schließen. Feministische Aktivistinnen sehen darin eine wichtige Errungenschaft.

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Fotografie:
Muzosare/Felipe Cantillana
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Übersetzung und Adaption:
Katharina Brunner & Clara Porák
DATUM Ausgabe September 2022

Katta Alonso platzt vor Auf­regung, als sie hört, dass Codelco, einer der weltweit größten Kupferproduzenten, seine Schmelzanlage in Zentralchile schließt. Nur ein paar Blocks von ihrem Haus entfernt, im Industriepark Ventanas, verschmutzt das Werk seit den 1960ern die Luft. Es ist Anfang Juli, das Ende der Produktionsstätte scheint so nahe. Katta Alonso ist Teil der feministischen Basisgruppe ›Mujeres de Zona de Sacrificio Quintero – Puchuncaví en Resistencia‹, kurz Muzosare. Seit Jahrzehnten kämpfen vor allem Frauen dafür, die Region Puchuncaví, rund 140 Kilometer nordöstlich von der chilenischen Hauptstadt Santiago entfernt, von extremer Umweltverschmutzung zu befreien. ›Opferzone‹ oder auch ›das chilenische Tschernobyl‹ wird die Region in Zentralchile genannt. Nachdem im Juni dieses Jahres einige Menschen Vergiftungssymptome meldeten, feierten die feministischen Aktivistinnen im Juli nun einen wichtigen Sieg: Die Regierung will den Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in der Region endgültig ein Ende setzen.

Bis vor Kurzem noch blieben die Forderungen der Aktivistinnen nach Umweltgerechtigkeit in der verschmutzten Bucht von Quintero-Puchuncaví weit­gehend ungehört. Am 17. Juni 2022 ­änderte sich das auf einmal. Was die Aktivistinnen nicht erwarteten: Die Regierung des neu gewählten Präsidenten Gabriel Boric kündigte an, ein Schmelzwerk der staatlichen National Copper Corporation of Chile (Codelco) solle geschlossen werden. Zuvor war erneut öffentlich gemacht worden, wie sehr die Bevölkerung im stark industrialisierten Gebiet am Pazifischen Ozean unter der Verschmutzung leidet: Mehr als hundert Menschen, die meisten von ihnen Kinder, wiesen Vergiftungssymptome auf, darunter Kopfschmerzen, Erbrechen und Durchfall. Codelco, dessen Schmelzwerk für fast 62 Prozent der Schwefeldioxidemissionen in der Bucht verantwortlich ist, stellte daraufhin den Betrieb ein. ›Wir haben nicht mehr erwartet, dass das wirklich passiert‹, sagt Katta Alonso gegenüber OpenDemocracy. Ihre ehemalige Nachbarin, Cristina Ruiz, ebenfalls Mitglied von Muzosare, ist sogar so gerührt, dass sie weint: ›Ich konnte mich nicht zurückhalten. Es war wie David gegen Goliath … Und dann kommt so eine Nachricht‹, sagt sie. Doch nach 25 Tagen Stillstand nahm die staatliche Kupferschmelze und -raffinerie den Betrieb wieder auf, nachdem sie einen Betriebsplan vorgelegt hatte, der vom Umweltministerium genehmigt worden war. Eine Schließung erfordert nämlich Verhandlungen mit den Gewerkschaften der Beschäftigten und der Auftragnehmer. Eine Einigung über ein geordnetes Verfahren wurde erst am 1. August erzielt. Derzeit verpflichtet ein Gesetz Codelco dazu, in Ventanas zu schmelzen. Für eine endgültige Schließung muss erst ein neues Gesetz verabschiedet werden. Das wird derzeit diskutiert und soll bald in den Kongress eingebracht werden.

Wenn Ruiz ›Kampf gegen Goliath‹ sagt, meint sie vor allem den Kampf gegen die Kupferindustrie. Chile ist mit einem Anteil von 27 Prozent an der weltweiten Kupferproduktion der größte Kupferproduzent der Welt, und Codelco verfügt über das weltweit größte Investitionsportfolio in der Bergbauindustrie, investiert also so viel in Bergbau wie kein anderer. Kupfer war für Chile während und nach der Pandemie ein Rettungsanker, der 2021 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des Landes ausmachte. Doch schon weit früher bedeutete die Kupferproduktion wirtschaftliche Prosperität und Aufschwung für Chile: Die 1960er machten die Bucht von Quintero-Puchuncaví aber auch zur ältesten der fünf chilenischen ›Opferzonen‹. Damals wollte man mit diesen stark industrialisierten Gebieten, in denen sich hauptsächlich thermoelektrische sowie Erdöl- und Chemieanlagen befinden, die Wirtschaft ankurbeln. Die erste Anlage, die der staatlichen Erdölgesellschaft ENAP gehörte, eröffnete 1954 an der Küste der Bucht von Quintero-Puchuncaví. Weitere kamen hinzu, sodass heute, rund 60 Jahre später, 17 Anlagen im Industriekomplex Ventanas nicht weit voneinander entfernt liegen. Sowohl staatliche Unternehmen, darunter Codelco, als auch  private Firmen sind die Betreiber. Allein in dieser Zone leben mehr als 50.000 Menschen – und 150.000 in den vier anderen Regionen. Die Einheimischen sind es gewohnt, sauren Regen und gelblich-grüne Wolken aus giftigem Gas am Himmel zu sehen.

Zwei Wochen nachdem gesundheitliche Belastungen bekannt wurden, kündigte der erst im März gewählte Präsident Gabriel Boric die Schließung der Schmelzanlage an. Den 350 Beschäftigten des Werks versprach der 36-Jährige eine Versetzung, Umschulung oder Abfindungszahlungen und die Prüfung ähnlicher Optionen für 390 freiberufliche Auftragnehmer und -nehmerinnen.  Die Gewerkschaften aber lehnten diese Vorschläge erst ab, dann traten die Arbeiter in Streik. Gewerkschaftsführerin Andrea Cruces sagte im Senat, die Schließung sei wirtschaftlich, sozial und ökologisch ungerechtfertigt. Schließlich beendeten die Beschäftigten den Streik jedoch und erklärten sich bereit, mit Codelco und der Regierung zusammenzuarbeiten. Andrea Cruces erklärte, dass ›die Vereinbarung aufgrund des gemeinsamen Interesses möglich war, sich um unsere Leute zu kümmern und sie im Falle der Schließung der Schmelzhütte zu schützen‹. 

Nach Angaben von Muzosare und anderen lokalen Gruppen lebt nur die Hälfte der Arbeiter in der Bucht. Damit erklärt sich auch ihr Widerstand gegen die Schließung, meint die Aktivistin Alonso: ›Sie haben die schrecklichen Folgen nicht aus erster Hand erfahren.‹

Der jüngste Vergiftungsfall war nicht der schlimmste in der Bucht von Quintero-Puchuncaví. Mindestens 1.800 Menschen wurden 2018 vergiftet, die meisten von ihnen Kinder. Anders ist dieses Mal die Reaktion der Regierung. Der relativ junge und als progressiv angesehene Präsident versprach schon im Wahlkampf, die ›Opferzonen‹ des Landes zu säubern.

Zwar gibt es in Chile Gesetze gegen Luftverschmutzung, weil sie aber nicht entsprechend durchgesetzt werden, hat das Land Probleme mit Schadstoffen in Luft, Wasser und Boden. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des staatlichen Rechnungshofs über die Opferzone in der Bucht zeigte, dass die Behörden nicht genau analysieren, welche Schadstoffe vorhanden sind und dass Methoden zur Messung der Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen fehlen.

Die Menschen, die in der Region leben, spüren die Auswirkungen schon lang:  In den 1980er-Jahren verfärbte sich die Haut der männlichen Arbeiter der Kupferfabrik grün, ihre Körper waren übersät mit Blasen, die eine grüne Flüssigkeit absonderten, viele starben in der Folge – auch ihre Leichen blieben grün gefärbt. ›Hinter dem Kampf von heute stehen vor allem Frauen mit Gebärmutter- und Brustkrebs, eines von vier Schulkindern hat im Schnitt neurologische Probleme‹, sagt Aktivistin Alonso und zitiert Daten, die von der Gemeinde Puchuncaví gesammelt und von Muzosare verarbeitet wurden. Eine aktuelle Studie der medizinischen Fakultät der Universität Valparaíso zeigte, dass die chronische Belastung mit Schwermetallen in Quintero-Puchuncaví das Risiko für Blasen-, Lungen-, Magen- und Gebärmutterkrebs erhöht. 

Eine weitere Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass Kinder und Jugendliche in dem Gebiet eher an Krebs erkranken als Erwachsene, weil ihre Körper höhere Konzentrationen von Schwermetallen wie Arsen enthalten. Andere Untersuchungen belegten, dass Toluol, einer der Schadstoffe in der Bucht, mit der hohen Prävalenz von Fehlgeburten in Verbindung steht. Bis 2017 das chilenische Abtreibungsverbot gelockert wurde, ›mussten schwangere Frauen tote Föten bis zum sechsten oder siebten Monat im Mutterleib tragen‹, so Alonso. ›Sie mussten warten, bis die Fehlgeburt eintrat. Stellen Sie sich das vor.‹ 

Vor mehr als einem Jahrzehnt schon schlossen sich Frauen in Quintero-Puchuncaví zusammen und stellten sich den Aufgaben, die die lokale Regierung nicht übernehmen wollte. Hausfrauen, Sozialarbeiterinnen, Handwerkerinnen, Aktivistinnen, Akademikerinnen und Lehrerinnen sammelten Studien über die Umwelt und die menschliche Gesundheit, organisierten Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen, mobilisierten und vernetzten Menschen. Ihre Arbeit hat dazu beigetragen, dass die gesundheitlichen Schäden heute bekannt sind. ›Wir haben eine Situation sichtbar gemacht, die viele Jahre lang verborgen war‹, sagt Alonso. Die Umweltanwältin Alejandra Donoso, deren Nichtregierungsorganisation Defensoría Ambiental an der Seite von Muzosare arbeitet, ist der Meinung, dass der Sinneswandel der Regierung ein Ergebnis des jahrzehntelangen Engagements der Frauen ist. ›Heute haben wir eine Regierung, die sich als feministisch bezeichnet und verspricht, die Opferzonen von Verschmutzung zu befreien‹, sagt sie. Dennoch: ›Es fällt uns schwer, aktuelle Ereignisse als Erfolg zu feiern, weil wir noch einen langen Weg vor uns haben.‹

Bei Unternehmen im Industriegebiet Ventanas finden sich immer noch unrechtmäßige Zustände: Nach Angaben der lokalen Mediengesellschaft Interferencia verfügen sie über keine Genehmigungen der Gesundheitsbehörden, entsorgen gefährliche Abfälle an nicht genehmigten Orten, gehen unsachgemäß mit Schadstoffen um oder behindern Kontrollverfahren. Die regionalen Gesundheitsbehörden ermitteln derzeit gegen Codelco wegen unrechtmäßigen Betriebs. 

›Wir sind fest entschlossen, Quintero und Puchuncaví zu einem Ort zu machen, wo die Umwelt sich erholt‹, sagte Hernán Ramírez, Sekretär für die Region Valparaíso im Umweltministerium, gegenüber OpenDemocracy. Ramírez arbeitet seit 20 Jahren mit sozialen Gruppen in der Bucht. Er sagt: ›Wir wollen die Vernachlässigung und Verletzung der Menschenrechte beenden, insbesondere der Rechte in Bezug auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen.‹ Ramírez kündigte Maßnahmen zur Identifizierung von Luftschadstoffen und ein System zur frühzeitigen Erkennung von Verschmutzungen in Quintero-Puchuncaví an. 

Die Regierung und Codelco haben sich darauf geeinigt, in den nächsten vier Jahren 30 Prozent der Gewinne des Unternehmens in Mittel für ›ökologisch nachhaltige Projekte‹ zu investieren. Auch ein Sprecher von Codelco verspricht: ›Ein Runder Tisch nahm am 30. Juni seine Arbeit auf und erzielte eine Vereinbarung, die dem Auftrag des Codelco-Verwaltungsrats entspricht: die Vorbereitungen für die Schließung der Schmelzhütte werden vorangetrieben, wobei wir einen Übergang schaffen wollen, der die sozialen Auswirkungen der Maßnahmen abfedert.‹ •