Die Hausrecycler
Andrea Kessler und Peter Kneidinger verbauen Überreste alter Gebäuden in neuen Häusern. Kann so Kreislaufwirtschaft am Bau funktionieren?
Eine Bar kann auch eine Beichte sein‹, sagt Andrea Kessler. Die Mitbegründerin des Bauunternehmens ›Materialnomaden‹ streicht über eine Tür-große Holzplatte mit kleinem verstrebten Fenster, die sie gerade mühsam aus einer Holzkiste hervorgezogen hat. Diese alten Beichtstühle hat das Unternehmen für die neue Wandvertäfelung in der Bar im Wiener Magdas Hotel der Caritas wiederverwertet. Mit einer übrigen gebliebenen Beichtstuhltür in den Händen steht Kessler heute in einer Lagerhalle in Wien Floridsdorf, von deren rechten hinteren Eck sich ein buntes Chaos geordnet in fein säuberlichen Stapeln überblicken lässt. Metallrohre, Montagewinkel, Markisenhalterungen neben alten Fensterrahmen, roten Haltestangen und blauen Zugsesseln. Die Objekte sind aber nur auf Durchreise, vielen ist ihre Zukunft schon vorherbestimmt.
Als Materialnomaden haben sich Andrea Kessler und ihr Co-Gründer Peter Kneidinger einer nachhaltigen Bauwirtschaft verschrieben. Dafür ernten sie Bauteile aus abbruchreifen Gebäuden und verpflanzen sie an anderer Stelle wieder. So kann aus Deckenpaneelen auch ein Blumentrog, aus Lüftungsrohren eine Fassade, aus Kastentüren ein Hausdach werden. Ihr, laut Kneidinger, bisher ›schönster‹ Kreislauf ist jedoch ein Parkettboden, der einfach Parkettboden bleibt.
Aber der Reihe nach: denn so funktioniert momentan auch unsere Wirtschaft – linear. Wir bauen einen Rohstoff ab, produzieren ein Produkt, nutzen und werfen es am Ende meist in die Tonne. In der Fachsprache nennt sich das ›take-make-use-waste‹-Wirtschaft. Oder plakativer: Wegwerfgesellschaft. ›Unsere Kernaufgabe ist statt diesen linearen Ketten, die Kurve zu kratzen‹, sagt Kessler. Die Kurve zu einer Kreislaufwirtschaft. ›Denn der Anfang eines Projekts beginnt eigentlich beim Ende eines anderen‹, fügt sie hinzu.
Besonders für die Baubranche ist das relevant. Dreiviertel des gesamten Abfalls und 57 Prozent des gesamten Ressourcenverbrauchs in Österreich gehen auf die Bauwirtschaft zurück. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse des Climate Change Center Austria zu den Maßnahmen der Stellungnahmen zum Nationalen Energie- und Klimaplan schreibt der Etablierung einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen ein Einsparpotential von 0,7 bis maximal 1,4 Millionen Tonnen CO2 zu. Das wären rund ein Viertel aller nationalen Emissionen im Sektor. Kreislaufwirtschaft bedeutet vor allem, effizient und schonend mit Ressourcen umzugehen, Stoffkreisläufe zu schließen. Und hier kommen die Materialnomaden ins Spiel.
Während sie sich durch die Stapel in der Backsteinhalle schlängelt, streift Andrea Kesslers Hand Holzscheite und Deckenleuchten, deren Geschichte sie erzählt. ›Es tut gut, das Material auch anzugreifen. Das Haptische in unserer Arbeit erfüllt mich mit der nötigen Hingabe, um auch diese harte Pionierarbeit zu leisten‹, sagt die Architektin und Künstlerin. Die Materialnomaden sind österreichweit eines von zwei Unternehmen, die ihr Geld mit zirkulärem Bauen und der Vermittlung von wiederverwendeten Bauteilen verdienen. Ihr Arbeitsprozess bildet einen Kreislauf, besteht aus vier Schritten und beginnt naturgemäß dort, wo die Nutzung meistens endet: in einem Leerstand.
Zuallererst wird eine Bestandsaufnahme gemacht. Mit Tablet bewaffnet gehen die Materialnomaden Gebäude ab. 15.000 Quadratmeter menschenleere Bürofläche – ihre bisher größte Rohstoffquelle – mögen auf die einen gespenstisch wirken. Für Andrea Kessler ist es die Geburtsstätte von neuen Ideen. Sie sucht und besucht verlassene Bauteile, analysiert, ob sie sich zerstörungsfrei ausbauen lassen, und nimmt sie in einen Bauteilkatalog auf. Das ist eine umfangreiche digitale Datenbank, in der sie Anzahl und Zustand der wiederverwendbaren Türstocke oder Edelstahlgeländer vermerkt.
Dann geht es an die Planung, die Prozessentwicklung, das Produktdesign. Manchmal lassen sich diese Schritte auch nicht definitiv trennen. Im Rahmen einer Kooperation mit der ÖBB wurde das eigentlich für die Deponie bestimmte Innenleben der ausrangierten blau-weißen 4020er-S-Bahnen ausgebaut. Kessler und Kneidinger haben Haltestangen, Gepäckshalter und Lederriemen bereits mit einem entstehenden Design im Hinterkopf sortiert. ›Als Planender hast du nicht wie üblicherweise den Katalog, aus dem du das bestellen kannst, was du gezeichnet hast. Du musst zuerst schauen, was da ist‹, sagt Ingenieur Kneidinger. Für die Planung bedeutet diese kreislauffähige Herangehensweise vor allem eines: mehr Aufwand. Aber: Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel.
Wo wir unsere Städte vor lauter Häusern nicht mehr sehen, verschiebt ›Urban Mining‹, aus dessen Dunstkreis der Ansatz der Materialnomaden kommt, die Perspektive. Städte sollen weniger als reiner Wohnort und mehr als Materiallager begriffen werden. ›Das Physische kann man nicht beschleunigen, und die Masse ist noch träge‹, sagt Kessler kryptisch. Während die benötigte Energie, um die Baustoffe von A nach B zu bewegen, immer gleich bleibt, können Informationen über Quantität und Verfügbarkeit digital in Netzwerken immer schneller geteilt werden. Die Baustoffe bleiben so idealerweise lokal in Verwendung.
Rohstoffkataster und digitale Gebäudepässe, wie sie die Firma Concular in Deutschland bereits erstellt, sollen dabei helfen. Sie funktionieren ähnlich wie der Bauteilkatalog der Materialnomaden, nur für bestehende Gebäude, Neubauten oder ganze Stadtteile, und erleichtern den späteren Ausbau der Bauteile und -stoffe. Diese Instrumente sind noch nicht breitenwirksam in der Praxis angekommen, dabei sind die Ideen dahinter alles andere als neu.
In einem Pilotprojekt wurde bereits 2015 ein Urban-Mining-Kataster im Grazer Stadtteil Eggenberg entwickelt, aber nie weiterverfolgt. Inzwischen bieten internationale Vorreiter wie die niederländische Firma Madaster auch in Österreich Software an, mit der die Zirkularität, Rückbaubarkeit und Emissionen von Gebäuden bewertet werden können. Einer ihrer 13 Kunden hierzulande war bis vor Kurzem die Signa-Gruppe. Das Vorbild für die Materialnomaden kam ebenfalls aus den Niederlanden. Ein Architekturbüro baute dort einen Spielplatz mit ausrangierten Teilen eines Windrads.
›Wir kennen uns noch aus Unizeiten‹, erinnert sich Peter Kneidinger. Der Ingenieur sitzt in einem Haus ohne Dach. Neben ihm wiegen sich Äpfel und Banane auf einem Dokumentenstapel im Rhythmus der Bohrmaschine einen Stock höher. Kneidinger ist vor Ort, um die Bauarbeiten am Dachstuhl zu koordinieren und hat seine Jause bisher noch nicht angerührt. 2015 habe ihn Andrea Kessler angesprochen, ihr fehle noch jemand für das Umsetzen ihrer Ideen. Wie dieses Umsetzen aussieht, erfährt das Haus nahe Wels gerade aus zweiter Hand. Wenn die Bauarbeiter wieder abgezogen sind, wird es zu zwei Dritteln aus wiederverwendeten Materialien bestehen. Die zwei Neubauten, die im Garten dahinter entstehen, zu fast hundert Prozent. ›Das Produkt hier ist der Prozess‹, erklärt Kneidinger. Die Materialnomaden wollen mit diesem Projekt eine Blaupause für kreislauffähigen Hausbau liefern, die als Handbuch aufliegen und reproduzierbar sein soll.
Wenn Kessler und Kneidinger Reuse-Teile einbauen, der vierte Schritt ihres Arbeitskreislaufs, stecken oder klemmen sie die Elemente zusammen, anstatt sie zu verkleben oder zu verschweißen. So wird der Ausbau, der dritte Schritt, nicht zur unlösbaren Aufgabe. Im alltäglichen Baubetrieb ist das weiterhin die Ausnahme.
Die Materialnomaden arbeiten zwar schon neun Jahre lang im Sinne einer Kreislaufwirtschaft, aber ›in Österreich liegen wir immer noch zehn Jahre zurück‹, sagt Andrea Kessler. Dass wir hierzulande in Sachen zirkulärer Wirtschaft noch sehr am Anfang stehen, darin waren sich alle Gesprächspartner von DATUM einig. Das Thema bekomme nun aber endlich die nötige Aufmerksamkeit und Bewusstsein werde geschaffen, meint Kessler. Es gibt momentan drei Hürden, die den Reusern das Leben und den Häusern das Sterben schwer machen.
Erste Hürde: Für die Besitzer ist es oft einfach am rentabelsten, ein Gebäude abzubrechen. ›Denn unser Baurecht geht immer noch vom Neubaufall aus‹, sagt Robert Temel, Sprecher der Plattform Baukulturpolitik, ›Bleibt ein Haus stehen, wie es ist, reicht der hundert Jahre alte baurechtliche Konsens. Sobald aber irgendetwas verändert wird, müssen plötzlich alle baurechtlichen Standards eines Neubaus erfüllt werden. Das rechnet sich schlicht nicht.‹ Und die Kosten bleiben der entscheidende Faktor am Bau.
Abhilfe schaffen könnte die ökonomische Betrachtung aller Lebensabschnitte eines Gebäudes, sogenannte Life-Cycle-Assessments, die bereits in der Planungsphase Kostenwahrheit schaffen sollen.
Die zweite Hürde ist, die ausgebauten Produkte auch als Produkte zu erhalten. Sobald nämlich ein Eigentümer sich einer Sache, beispielsweise eines Gebäudes, entledigen will, wird dieses unabhängig von der Qualität seiner Einzelteile rechtlich zu Abfall. ›Außer man wendet einen Kunstgriff an‹, sagt Kneidinger. In Abstimmung mit dem Abbruchunternehmen werden bestimmte geeignete Teile zur Demontage und Wiederverwendung ausgeschrieben. Dieses Problem in Einzelprojekten zu umgehen, verursacht nicht nur wiederum mehr Aufwand, es bleibt so auch die Haftungsfrage ungeklärt.
Was uns zu Hürde Nummer drei bringt. ›Die Zertifizierung ist das A und O, das Wichtigste für alle Beteiligten am Bauprozess. Wer übernimmt die Gewährleistung?‹, sagt Kneidinger. Wenn ausgebaute Fenster in einem neuen Haus wiederverwendet werden sollen, muss garantiert sein, dass sie auch wie neue Fenster funktionieren. Auch dass sich in den Teilen keine Schadstoffe angesammelt haben, muss überprüft werden. Der ursprüngliche Hersteller kann die Garantie nicht an Dritte weitergeben, die rechtliche Situation ist noch sehr vage. Bisher haben die Materialnomaden für die Elemente, die sie eingebaut haben, selbst als Unternehmen die Haftung übernommen. ›Das haben wir uns getraut‹, meint Kneidinger ein wenig stolz. Dass auch die Bauherren so mutig waren und auf ihre Handschlagqualität vertraut haben, sei natürlich nicht skalierbar. ›Aber wir brauchen skalierbare Produkte und Prozesse‹, fügt der Ingenieur hinzu.
Der Re:Parkett ist beides. Mehrere tausend Quadratmeter Echtholzparkett haben die Materialnomaden in Wien ausgebaut. Normalerweise werden die bis zu 200 Jahre alten Holzscheite danach verbrannt, wegen Kneidinger und Kessler können sie weitere hundert Jahre betreten werden. Als Boden in anderen Gebäuden. Mit einem Partner aus der Industrie haben die Materialnomaden den Prozess dafür entwickelt. ›Wir gehen diese Wege gemeinsam mit der Industrie, und entwickeln mit den Unternehmen einen neuen Umgang mit den Materialien‹, erklärt Andrea Kessler.
Die Eichenholzstäbe werden direkt in eine Wiederaufbereitungsanlage geliefert, wo der Parketthersteller wieder neuwertigen Vollholzboden daraus schafft. So entfällt auch die Haftungsthematik, weil der wiederverwendete gleich wie der neuproduzierte Parkettboden vom Band läuft, und alle haben einen ökonomischen Nutzen daraus.
Weil nicht in jedem Haus 2.000 Quadratmeter Eichenholzparkett zum Rückbau bereit liegt, haben die Materialnomaden verschiedene Quellen, von denen sie Material ernten. Momentan haben sie auch mehrere Bauteillager, weil ihr ehemaliges Lager und Büro, die Kegelhalle am Kempelenpark, ironischerweise der Abrissbirne zum Opfer fiel. Die Corona-Krise hätte damals im unternehmerischen Sinn fast tödlich für sie geendet, heute sind die Auftragsbücher von Kessler und Kneidinger voll. Das hat auch damit zu tun, dass die EU-Taxonomie, die festlegt, was als grünes Wirtschaften gilt und eines ihrer sechs Grundziele dem ›Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft‹ gewidmet hat, langsam in der Baubranche greift. Auch national werden mehr Förderungen vor allem für Projekte der Industrie ausgeschrieben.
2022 hat das Klimaministerium die österreichische Kreislaufwirtschaftsstrategie veröffentlicht. Eines der Ziele ist, unseren Materialverbrauch pro Kopf und Jahr bis 2030 auf 14 Tonnen zu senken. Momentan übersteigen wir mit 19 Tonnen die Menge, die für den Planeten verträglich wäre, um das Dreifache. Eine in der Strategie als prioritär eingestufte Maßnahme ist außerdem die Ausarbeitung einer OIB 7. Diese Norm würde die Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft im Baurecht aller Bundesländer gleichermaßen verankern, sie befindet sich momentan in Ausarbeitung. Auch soll laut Papier analog zum Klimaschutzgesetz ein Kreislaufwirtschaftsgesetz beschlossen werden. Ebenso analog ist mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz wohl aber nicht so bald zu rechnen, auf Anfrage verweist das Ministerium darauf, dass das Gesetz wie im Papier beschrieben ›mittelfristig‹ kommen solle und die nötigen legistischen Maßnahmen momentan vor allem in anderen Gesetzen stattfänden.
Die Vorreiterrolle der Materialnomaden zeigt in Umrissen, wie eine Kreislaufwirtschaft am Bau funktionieren kann. Eine Zeit lang wird es wohl noch harte Pionierarbeit bleiben. Andrea Kessler steht wieder am Eingang der Materialhalle und blickt zu den roten Haltegriffen: ›Es geht ja auch um die Geschichte der Teile, die Wertschätzung und Identifikation. Dass einfach jeder diese blau-weißen Züge kennt und Erinnerungen damit verbindet.‹ Für die Zukunft gibt sie sich optimistisch: ›Bei Möbeln oder Mode ist Vintage wieder in. Wenn man Musik hört, sind das auch wieder die 80er, die 90er. Im Bauwesen ist es im Grunde das Gleiche. Wir haben da nur längere Vorlaufzeiten.‹
›Ich träume die ganze Zeit von jemandem, dem ich kurz einmal meinen Rucksack abgeben kann‹, sagt Peter Kneidinger, während er zwischen Bauschutt im dachlosen Haus sitzt. Bei dem ökonomischen Druck und den sich erst noch entwickelnden Rahmenbedingungen – braucht es da eine gehörige Portion Idealismus, um weiterzumachen? ›Ich weiß nicht, ob es Idealismus ist. Ich habe zwei Kinder, und ich möchte etwas machen das ihr Leben zumindest nicht erschwert. Da geht es nicht nur um Geld, sondern um unsere Umwelt. Also, vielleicht ist es auch nur vernünftig.‹ •