Ungekühlt

Obdachlose und wohnungslose Menschen leiden besonders stark unter urbaner Hitze. Das Sozialprojekt VinziRast bietet deshalb Rückzugsorte im Grünen an.

DATUM Ausgabe Juni 2023

Die Hitze brennt auf den Asphalt, sie kommt von oben, aber auch von unten zurück vom Beton. Als Stadt ist Wien ein Hitzezentrum, es ist Juli 2022 und seit ein paar Tagen messen die Wetterstationen über 30 Grad in Österreichs Hauptstadt. Julian ist wohnungslos seit gut einem halben Jahr. Die Stadt stresst ihn, gehetzte Gesichtsausdrücke fallen ihm besonders auf, Menschenmengen engen ihn ein. In der Sommerhitze der Stadt wird es schlimmer für ihn. Es fehlt ihm an ruhigen Rückzugsorten. ›Es fühlt sich an, als würden die Menschen mich wie Wellen überrollen‹, erzählt er.  

Von einer Hitzewelle spricht man in Österreich, wenn es mehr als drei Tage in Folge über 30 Grad hat. 2019 war gemeinsam mit 2003 das wärmste Jahr in Österreich seit Beginn der Aufzeichnungen, in den Bergen war es 2022 so warm wie noch nie. Während die Stadt sich im Sommer phasenweise immer stärker erhitzt, flüchten die Menschen gern aufs Land oder zum Wasser. Doch nicht alle haben den gleichen Zugang zu kühlen Orten in der Natur, nicht alle können sich gleich gut vor den Folgen der Klimakrise schützen. Wer hat die Klimaanlagen im Wohnzimmer und Büro? Wer kann sich jederzeit zu Hause unter die kalte Dusche stellen?

Weltweit gesehen treffen die Folgen der Klimakrise Länder des Globalen Südens, wie Pakistan, Afghanistan, Honduras oder Somalia, am stärksten, und sie haben auch weniger Ressourcen, sich davor zu schützen. Was sie mit Ländern im Globalen Norden gemeinsam haben: Innerhalb ihrer Gesellschaft sind manche Gruppen stärker betroffen als andere. Die Stadt Wien führt in einem Bericht über die sozialen Folgen der Klimakrise 2021 zentrale Vulnerabilitätsmerkmale an: geringes Einkommen, ältere Menschen über 65 Jahre, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Migrationshintergrund oder niedriger Bildungsstand. Rund 56 Prozent der über 15-Jährigen in Österreich weisen zumindest eines der Merkmale auf, was häufig dazu führt, dass sie sozio-ökonomisch benachteiligt sind. Zum Beispiel leben Menschen mit Migrationsgeschichte oft in günstigeren Wohnungen, die schlechter gegen Hitze gedämmt sind, können sich schwer Klimaanlagen leisten und leben in jenen Teilen der Stadt, die weniger begrünt sind und sich damit stärker erhitzen.

Wohnungs- und obdachlose Menschen sind ebenso besonders betroffen. Obdachlos bedeutet, dass eine Person die meiste Zeit auf öffentlichen Plätzen lebt und unter Verschlägen oder Brücken schläft. Als wohnungslos hingegen bezeichnet man Menschen, die keine Wohnung haben, aber bei Bekannten oder Freundinnen und Freunden, in besetzten Häusern, bei Verwandten oder in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe unterkommen.

Julian hält es nicht lange aus in der heißen Stadt. Es ist Sommer 2022 und Julian siedelt mit all seinem Hab und Gut auf die Donauinsel um. Er ist 28, und der Alltag, den die Gesellschaft als Norm beschlossen hat, engt ihn ein. Zu lange an einem Ort, in derselben Wohnung, das will und kann er nicht: ›Für mich ist es, als würde ich in eine Box eingeschlossen werden. Draußen auf der Straße zu sein macht viele Probleme, aber es gibt mir Freiheit‹, sagt er. Mit Minijobs am Flughafen Wien, in der Gastro und im Zirkus hält er sich finanziell über Wasser. 

›Jede gesellschaftliche Krise zeigt sich verstärkt bei Gruppen, die ohnehin schon in Krisensituationen leben‹, sagt Daniela Unterholzner. Sie ist Geschäftsführerin des neunerhaus, einer Institution, die obdachlose und wohnungslose Menschen in Wien auf dem Weg zu einem selbstständigen Leben unterstützt. Laut Statistik waren in ganz Österreich 2020 rund 20.000 Menschen als obdach- oder wohnungslos registriert, die Hälfte davon in Wien. Ein Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2022 über den Einfluss von Obdachlosigkeit auf die Gesundheit hält fest: ›Die Klimakrise und die damit einhergehende zunehmende Hitze in Österreich sind Faktoren, die die Menschenrechte von Personen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, zusätzlich gefährden und allenfalls zu weiteren Verletzungen ihrer Menschenrechte führen.‹

Viele Maßnahmen, die Menschen mit Wohnung gegen die Hitze ergreifen, sind für wohnungs- oder obdachlose Menschen nicht oder schwer zugänglich: Es beginnt beim gekühlten Innenraum und der kühlen Dusche, doch die Liste ist lang. Auch wenn Wien die Donauinsel hat – einige Hürden machen es vielen obdach- oder wohnungslosen Menschen schwer, schwimmen zu gehen. Viele haben kein Ticket für den öffentlichen Verkehr, oder der Weg ist schlicht zu lang und zu kompliziert. Die meisten haben ihr gesamtes Hab und Gut bei sich. So auch ihre Papiere und Wertsachen – das alles unbeaufsichtigt zu lassen, um ins kühle Wasser zu flüchten, ist eine große Hürde. Julian nimmt sich die Hängematte und übernachtet damit auf der Donauinsel, wo die Nächte kühler sind, aber nicht alle ohne Wohnung wollen und können das. ›Den Älteren macht die Hitze wesentlich mehr zu schaffen. Die brauchen kühle Cafés oder eben Einrichtungen‹, sagt Julian.

Hitze verändert unser Leben. Sie macht uns müde, gestresst, gereizt, schwächt die Konzentration, manche treibt sie in die Isolation. Vor allem ältere Menschen, die sich vor der Hitze in den eigenen vier Wänden schützen wollen, ziehen sich zurück. Die, die keine eigenen Wände haben, gehen in Einrichtungen, wenn sie es können. Damit verlieren sie aber auch den Kontakt zu Bekannten im öffentlichen Raum. Um bis zu zwölf Grad kann es in Sommernächten in der Stadt wärmer sein als am Land. Das neunerhaus in Wien betreibt auch ein Gesundheitszentrum, für niederschwelligen Zugang zu medizinischer Versorgung. ›Die Hitze verschlechtert jede Erkrankung, kann man fast sagen. Kranke Menschen sind während Hitzetagen kränker, gerade bei kardio-vaskulären und Nierenerkrankungen‹, schreibt der medizinische Leiter des Zentrums, Dr. Stephan Leick, im Bericht von Amnesty International. Die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) zählte im Jahr 2018 in Österreich 550 hitzebedingte Todesfälle. Bis Mitte des Jahrhunderts könnten es doppelt so viele pro Jahr sein. ›Es kann gut sein, dass wir in Zukunft eher Hitzetote als Kältetote haben werden‹, schätzt auch Unterholzner. Beim neunerhaus bekomme man die Rückmeldung von Betroffenen, dass es mittlerweile leichter sei, mit Kälte umzugehen: Einfach immer mehr anziehen. Aber der Hitze entkomme man irgendwann nicht mehr.

Einige obdachlose Menschen ziehen sich im Sommer in den Wienerwald zurück und haben dort ihre Basis, oder flüchten, wie Julian es macht, auf die Donauinsel. Nicht alle aber sind bereit dazu. ›Die eine Chance auf ein paar Euro, oder das Kipferl vom Bäcker, die dir jemand in der Stadt schenkt, ist damit vertan‹, sagt Unterholzner. Wohnungslose und obdachlose Menschen leben zwar immer mehr auch in Kleinstädten, doch der große urbane Raum ist immer noch das Zentrum für Obdach- oder Wohnungslosigkeit. Niederschwellige Einrichtungen, Notschlafstellen, belebte Straßen, die Möglichkeit zu Gemeinschaft im öffentlichen Raum binden obdachlose Menschen an Städte. Abseits von Infrastruktur sind sie auch den immer häufigeren Extremwetterereignissen, wie Starkregen, Gewitter oder Stürmen, stärker ausgesetzt. ›Bei Naturkatastrophen sind die ziemlich auf sich allein gestellt. Katastrophenschutz fokussiert zuerst auf die vielen Menschen – da werden obdachlose Menschen nicht automatisch mitgedacht‹, sagt Unterholzner. 

Es ist Anfang Mai 2023, und 20 Grad wird es auch hier in Mayerling, Alland in Niederösterreich heute bekommen. Ein bisschen verloren steht Julian auf dem Parkplatz vor einem früheren Gourmet-Restaurant. Heute will er bei der VinziRast am Land mithelfen, seinen Job am Flughafen hat er eineinhalb Monate ausgehalten. Von 2003 bis 2016 betrieb hier der Dreihaubenkoch Heinz Hanner ein Restaurant und ein Hotel. 2019 kaufte Hans Peter Haselsteiner mit seiner Stiftung das leerstehende Gebäude und überließ es der VinziRast, einem Verein aus Wien, der Projekte und Einrichtungen für wohnungs- und obdachlose Menschen bietet. Seit 7. Mai sind die Tore offiziell geöffnet. Die VinziRast am Land will ›Boden unter den Füßen‹ bieten. Hier sollen (ehemals) obdachlose Menschen wohnen und in Holzwerkstätten, in der Küche, im Gemüsebau, bei Raumgestaltung oder der Permakultur-Landwirtschaft mitarbeiten. Gleichzeitig wird es ein Hotel sein, wo Zimmer in unterschiedlichen Preisklassen eine Übernachtungsmöglichkeit bieten. Die Vögel zwitschern, eine kleine Brise weht Julian durch die Haare, während er erzählt: ›Ich liebe die Stadt, aber hier habe ich mehr Ruhe, der Wald ist mein Rückzugsort.‹ 

Fernab von belebten Straßen will die VinziRast wohnungslosen Menschen ein Angebot schaffen: Hier verbindet man ein Leben in der Natur mit dem Versuch, wohnungslosen Menschen Strukturen zu bieten. ›Wie so oft, ist auch das ein Experiment‹, fasst Veronika Kerres das Projekt VinziRast am Land zusammen. Frei von Vorgaben, wer Anspruch auf Wohnungslosenhilfe hat, da die VinziRast keine öffentlichen Gelder bezieht, sondern rein von Spenden und Freiwilligenarbeit lebt, kommen hier die unterschiedlichsten Menschen zusammen: Freiwillige, die Projektgruppen leiten; Menschen, die am Land aufgewachsen sind, aber in der Stadt obdachlos gelebt haben und wieder mehr in der Natur sein wollen; Personen, die obdachlos sind und nur schwer Innenräume und Menschenmengen aushalten können – Menschen wie Julian. Auch die VinziRast kennt die Beschwerden über Hitze in der Stadt. Alle ihre Innenräume zu klimatisieren, kann sich die Initiative aber derzeit nicht leisten. Mit dem Standort am Land macht sie Naturraum zugänglicher für eine der verletzlichsten Gruppen in der Klimakrise. Julian will erst einmal hierbleiben. •