Zurück zum Urwald

Nur jeder fünfte Baum in Deutschland ist gesund. In einem Naturschutzgebiet nördlich von Berlin sollen deshalb Naturwälder ganz ohne menschliches Zutun entstehen.

DATUM Ausgabe September 2023

Der trockene Untergrund knackt bei jedem Schritt, als Andreas Krone auf eine winzige, wenige Jahre alte Rotbuche zugeht. Um ihn herum wachsen Kiefern aus dem sandigen Boden, eine neben der anderen, ­akkurat angeordnet in gleichmäßigen Abständen, ihre lichten Kronen alle auf derselben Höhe. Die schlanken Nadelbäume verbreiten einen intensiven, harzigen Geruch.

Krone ist ehrenamtlicher Schutzgebietsbetreuer des Naturschutzbunds Deutschland (NABU). Er bückt sich zu der jungen Rotbuche, die aussieht wie ein kleiner Busch. ›Eigentlich müsste die schon über zwei Meter hoch sein‹, sagt er. Statt in die Höhe zu wachsen, hat sich die Rotbuche dutzende Male verzweigt, nachdem Rehe oder Hirsche an ihr knabberten.

Fast ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bedeckt. Damit ist das Land eines der waldreichsten Europas. In Österreich wächst Wald sogar auf knapp der Hälfte der Staatsfläche. Doch die Wälder, weithin angesehen als Klimaschützer Nummer eins, stehen angesichts der Klimakrise unter starkem Stress, nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern europaweit. Extreme Dürren, Hitzewellen, Schädlingsbefall und Waldbrände setzen ihnen zu. In Deutschland hat sich der Zustand aller Baumarten seit Beginn der Erhebungen in den 1980er-Jahren kontinuierlich verschlechtert. 

Heute sind laut aktueller Waldzustandserhebung vier von fünf Bäumen krank. Nur 20 Prozent haben eine gesunde Krone. Was also muss angesichts einer sich erhitzenden Welt getan werden? Wie sehen die Wälder der Zukunft aus?

Jedenfalls nicht so wie der Kiefernforst, in den Krone heute gekommen ist. Der Forst befindet sich bei Biesenthal, einer 6.000-Einwohner-Stadt nördlich von Berlin. Das hier könnte aber auch fast jeder andere Wald in Brandenburg sein, Kiefern wachsen auf 70 Prozent der Waldfläche des Bundeslands. Nirgendwo in Deutschland stehen so viele Kiefern wie hier.

›Man sieht, dass Buchen und Eichen wachsen wollen‹, sagt Krone. Anders als die Kiefern seien diese Arten hier heimisch. Er zeigt auf verschiedene Stellen am Boden. Hier und da kommen zwischen den umherliegenden Zweigen und Zapfen kleine Sprossen junger Buchen und Eichen durch. Doch wegen des Wildverbisses haben sie keine Chance, groß zu werden.

Der Wald verjüngt sich nicht. Gleichzeitig wurden alle Kiefern, die hier stehen, zur selben Zeit gepflanzt, sie haben also alle dasselbe Alter. Sollten sie einmal sterben, wäre hier nichts als karges Land. ›Es tut weh, sich anzusehen, wie hier gegen die Natur gearbeitet wird‹, sagt Krone. Das bringe unzählige Probleme mit sich.

Da ist einmal der Borkenkäfer, der besonders von durch Trockenheit geschädigten Bäumen profitiert und sich durch ihre Rinde gräbt. Werden gegen die Käfer Vernichtungsmittel eingesetzt, sterben auch viele andere Insekten. Da ist auch der trockene und durch die tonnenschweren Maschinen verdichtete Boden. Und da sind die Waldbrände. Ein Kiefernforst wie hier bei Biesenthal ist dafür besonders anfällig, unter anderem, weil er so trocken ist. Brennt es einmal, breite sich das Feuer rapide aus, sagt Krone. ›Kiefern sind wie Fackeln.‹

Als Forste bezeichnet man von Menschen gepflanzte und wirtschaftlich genutzte Wälder. Dabei gibt es viele unterschiedliche Formen. Die Probleme treten insbesondere in Altersklassenwäldern wie hier bei Biesenthal auf. Altersklassenwälder sind von einer oder wenigen Baumarten dominierte Forste, in denen ganze Flächen durch Kahlschlag geerntet und anschließend wieder aufgeforstet werden. Das Gegenstück zu Altersklassenwäldern sind Dauerwälder, in denen viele Arten gemischt und Bäume unterschiedlichen Alters wachsen sowie Einzelbaumnutzung statt Kahlschlag stattfindet.

Altersklassenwälder sind in Deutschland und Österreich nach wie vor weit verbreitet. Längst herrscht aber ein großes Bewusstsein für deren Probleme. Schon seit mehreren Jahrzehnten gibt es das Ziel, die Wälder umzubauen, weg von Nadelbaum-Monokulturen hin zu Mischwäldern, die in der Klimakrise deutlich resistenter sind. 

Doch der Waldumbau ist kompliziert und kommt nur schleppend voran, unter anderem, weil er lange dauert; weil Privatbesitzer einbezogen werden müssen, die etwa für gezielte Pflanzungen oft mehr investieren müssten, als sie mit ihrem Forst aktuell verdienen; und auch weil sich Wälder wegen des Wildverbisses vielerorts nicht natürlich verjüngen. Experten fordern deshalb unter anderem, dass private Waldbesitzer intensiv beraten sowie ganze Waldgebiete effizient bejagt werden. All das ist aufwendig. In Brandenburg zum Beispiel könnte Wald auf einer Fläche von etwa 500.000 Hektar umgebaut werden. Seit 1990 hat man lediglich 46.000 Hektar geschafft. Und so herrschen nach wie vor 40 bis 60 Jahre alte Kiefernbestände vor.

Im Kiefernforst bei Biesenthal steigt Krone in seinen dunkelgrünen Lada und fährt los. Der Motor des Geländewagens dröhnt ungewöhnlich laut. Über eine Landstraße und ein paar holprige Wege fährt Krone in Richtung Biesenthaler Becken, ein knapp tausend Hektar großes Naturschutzgebiet.

Der Naturschutzbund NABU hat in den vergangenen 20 Jahren Teile dieses Schutzgebiets aufgekauft, um zu verhindern, dass die Wälder vor Ort wirtschaftlich genutzt werden. Denn Schutzstatus hin oder her: Wer Waldfläche besitzt, darf sie auch forstlich nutzen. In der Vergangenheit haben Privatbesitzer Gebiete im Biesenthaler Becken entwässert und Kiefern- und Lärchenforste gepflanzt. Heute wächst deshalb nur etwa auf einem Viertel der Fläche standortgerechter Laubmischwald.

Inzwischen gehört dem NABU fast die Hälfte des Biesenthaler Beckens, ein großer Teil davon ist mit Wald bewachsen. Auf dieser Fläche verfolgt die Umweltorganisation einen ganz speziellen Ansatz, um natürliche Ökosysteme, das heißt Laubmischwälder, wiederherzustellen: Die Flächen werden komplett sich selbst überlassen. So sollen Nadelforste sich mit der Zeit von ganz alleine in Laubmischwälder verwandeln. Sukzession nennt man das: wenn standortgerechte Pflanzen, Tiere und Pilze auf einer zuvor geschädigten Fläche auf natürliche Weise wieder zurückkehren. Und so sollen im Biesenthaler Becken – ganz ohne menschliche Eingriffe – die Urwälder von morgen entstehen.

Solche Urwälder sind besonders resistent gegen die Klimakrise und tragen, so die Hoffnung, zu einer nachhaltigen Lösung für den schlechten Zustand der Wälder in Deutschland bei. Das ist nicht nur für die Gesundheit des Waldes selbst wichtig: Auch die Menschheit ist im Klimaschutz auf gesunde Wälder angewiesen. In Deutschland sind laut Kohlenstoffinventur des Thünen-Instituts für Waldökosysteme in lebenden Bäumen sowie im Totholz aktuell rund 1,26 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gebunden. Außerdem entlasten Wälder die Atmosphäre jedes Jahr um rund 62 Millionen Tonnen CO2, sie stellen also eine enorm wichtige Senke dar. Dass das so bleibt, ist aber alles andere als sicher: Durch die zunehmenden Schäden könnten die Wälder ihre Rolle als essentielle Klimaschützer verlieren.

Krone stoppt den Wagen und steigt aus. Der gelernte Hydrologe betreut das NABU-Projekt im Biesenthaler Becken. Obwohl, sagt er, wirklich etwas machen müsse er hier nicht. Denn das zeichne das Projekt aus: Die Natur machen lassen. Zu Beginn des Projekts haben Krone und sein Team hier zwar ein wenig Starthilfe gegeben. Hier und da haben sie Buchen und Eichen gesät und mit Zäunen geschützt, um die natürliche Verjüngung des Waldes zu unterstützen. Seitdem überlassen sie den Wald aber komplett sich selbst – und kommen nur ab und zu für einen Kon-
trollgang vorbei.

Krone geht an einem mit Wasser gefüllten Graben vorbei, grüne Wasserlinsen bedecken die stille Oberfläche. Der Wind raschelt im Laub, Grillen zirpen, und hier und da ist Vogelgezwitscher zu hören. Krone geht weiter, einen schattigen Waldweg entlang, der weiche Boden gibt unter den Schritten nach.

Im Vergleich zum Kiefernforst von vorhin sieht der Wald hier fast schon chaotisch aus. Vereinzelt stehen kranke oder tote Nadelbäume zwischen kleinen und großen, jungen und alten Laubbäumen. Es sei noch nicht ganz Naturwald, sagt Krone. Dafür gebe es noch zu wenig unterschiedliche Altersklassen und nicht genug Totholz. Dennoch ist der Boden schon dicht bewachsen mit einer jungen Generation an Laubbäumen – und zahlreiche Äste sowie totes Holz liegen herum.

Manchmal bietet Krone geführte Wanderungen durchs Biesenthaler Becken an. Auf einer dieser Führungen sei ein Teilnehmer etwas irritiert gewesen, sagt Krone. Wann der NABU den Wald hier denn mal aufräumen wolle, habe er gefragt. Für viele Brandenburger sei eben ein Altersklassenwald mit seinen geraden Linien das gewohnte, natürliche Waldbild.

Dabei ist dieser selbstverständlich alles andere als natürlich, er bietet kaum Lebensraum für Pflanzen- und Tierarten. Und genau das ist der Grund, warum sich Krone im Biesenthaler Becken engagiert: Er wolle ein Stück heimische Natur und Artenvielfalt fördern, sagt er. Krone ist schon seit den 1990er-Jahren beim NABU aktiv. Früher hat er gemeinsam mit anderen Engagierten über Jahre Krötenzäune betreut, hat tausende Amphibien über die Straße getragen. Bis sie dann vor vier, fünf Jahren damit aufgehört haben. ›Es waren einfach keine Amphibien mehr da‹, sagt Krone. ›Da konnte ich den drastischen Artenrückgang wirklich mit ansehen.‹

Krone geht auf die Überreste eines toten Baumstamms zu. Eine alte Buche. Der dicke Stamm ist nur noch zwei Meter hoch und zur Hälfte aufgebrochen. Überall haben Spinnen ihre Netze über das Holz gewebt. Ein solcher Stamm brauche viele Jahrzehnte, bis er zersetzt sei, sagt Krone. In den meisten Wäldern schaffen Menschen Totholz weg, dabei erfülle es viele wichtige Funktionen: Es bindet CO2, trägt zur Humus-Bildung bei und bietet Nahrung und Lebensraum. Zum Beispiel für Spechte und Fledermäuse, aber auch für viel kleinere Lebewesen. Krone deutet auf die vielen, winzigen Löcher, die im aufgebrochenen Stamm zu sehen sind: Gänge von Larven der Nashorn- und Hirschkäfer.

Beim Rundgang durch den Wald unterbricht sich Krone immer wieder selbst. Dann deutet er auf einen bestimmten Baum, um zu zeigen, wie viele verschiedene Arten hier wachsen: Rotbuchen, Ebereschen, Feldahorn, Weißdorn, Holunder. ›Das alles hat sich von alleine entwickelt‹, sagt Krone. ›Einfach toll, wie viel Artenvielfalt auf kleinstem Raum möglich ist.‹

In einem Naturwald gibt es aber nicht nur eine hohe Artenvielfalt, sondern auch genetische Vielfalt innerhalb der Arten. So kann es beispielsweise sein, dass manche Rotbuchen Trockenheit besser aushalten als andere. Diese genetische Vielfalt macht den Wald anpassungsfähig.

Außerdem sei dieser natürliche Laubmischwald viel feuchter als reine Nadelforste, sagt Krone. ›In einem Kiefernforst gibt es quasi keine Grundwasserneubildung, da kaum Wasser versickert.‹ Das liegt auch daran, dass die Kronen der immergrünen Nadelbäume auch im Winter viel Wasser auffangen, welches dort dann direkt wieder verdunstet. Kahle Laubbäume hingegen lassen im Winter das Wasser durch, bis zum humusreichen Boden, der das Wasser deutlich besser speichert als der verdichtete Boden im Forst.

In Deutschlands Nationaler Strategie zur biologischen Vielfalt ist das Ziel festgehalten, mehr naturbelassene Wälder wie den im Biesenthaler Becken zu schaffen. Bis 2020 sollten fünf Prozent der Waldfläche Deutschlands dafür gesichert werden. Dieses Ziel wurde allerdings weit verfehlt: Aktuell sind es laut Bundesamt für Naturschutz weniger als drei Prozent.

Dabei sind Naturwälder entscheidende Verbündete gegen die Klimakrise – und können gleichzeitig als Leuchttürme für die Waldwirtschaft dienen. Denn wie entwickeln sich Wälder ganz ohne wirtschaftliche Nutzung? Darüber geben sie wertvolle Hinweise und bieten so Orientierung für die Umstellung von Altersklassenwäldern zu naturnahen Dauerwäldern.

Nicht zuletzt bilden Naturwälder, aber auch wirtschaftlich genutzte, naturnahe Wälder dringend nötige Oasen für die Menschheit. Nicht nur, weil sie große Mengen CO2 binden, sondern auch, weil sie für sauberes Trinkwasser sorgen, die Luft reinigen, vor Überschwemmungen schützen – und auch aufgrund ihres Mikro-Klimas: In wohl keinem anderen Wald ist es so schön kühl und schattig. •