Ski-Scham

Die Free-Ski-Athletin Rosina Friedel hat Wintersport zu ihrem Beruf gemacht. Seit ihr der Schnee unter den Brettern wegschmilzt, fragt sie sich: Kann sie das Skifahren angesichts der Klimakrise noch verantworten?

DATUM Ausgabe Februar 2024

Besser hätte es nicht kommen können: Als Rosina Friedel mit ihren Freunden in Sarajevo eintrifft, hat es gerade frisch geschneit. Friedel schlüpft in einen orangen Skianzug, setzt sich eine rote Mütze auf und schnappt sich ihre Skier. Dann ziehen sie und die anderen los, sie wollen die Straßen der bosnischen Hauptstadt zu ihrer Piste machen. Sie fahren über Bänke, hüpfen über Mistkübel, sliden über Geländer und springen von Mauern. Immer wieder bleiben Fußgänger stehen, vor allem Kinder, sie jubeln und feuern die Sportler an. So etwas sehen sie schließlich nicht alle Tage.

Friedel ist Extremsportlerin und Freeriderin. Gemeinsam mit ihren Ski-Buddys – einer Crew mit dem Namen ›El Makrell‹ – ist sie in den Zug gestiegen und reist quer durch Osteuropa. Wenn sie Ski fährt, fühlt sie sich frei, weit weg von allem, was sie im Alltag belastet. Von Sarajevo geht es weiter nach Rumänien, ins Gebirge: steile Abhänge, hohe Sprünge, Drehungen, und immer ist auch die Kamera mit dabei. Aus den Aufnahmen entsteht später der Kurzfilm ›Stanice‹ (tschechisch für Station). Beim Zuschauen merkt man sofort: Hier fahren Menschen, die eins mit ihren Skiern sind. 

›Das Skifahren ist für mich ein Weg, mich auszudrücken‹, sagt Friedel. ›Manchmal kommt es mir vor, als würde ich tanzen.‹ Doch etwas gerät aus dem Takt, das merkt sie längst. Die Sommer werden heißer, die Winter milder, der Schnee kommt seltener, die Gletscher schmelzen. Es ist ein Tanz auf brüchigem Parkett, zu ersterbender Musik.

›Es ist beängstigend, wenn ich mir vorstelle, nicht mehr Ski zu fahren‹, sagt Friedel. Gleichzeitig nagen Zweifel an ihr, schließlich ist ihr Sport extrem umwelt- und klimaschädlich. Seilbahnen und Schneekanonen verbrauchen in Österreich pro Jahr ungefähr 1.200 Gigawattstunden Energie. Allein damit könnte der durchschnittliche Jahre­s­bedarf von rund 340.000 Haushalten gedeckt werden. Dazu kommt der Verbrauch durch Unterkünfte, Gastro­no­mie und vor allem An- und Abreisen, die besonders schwer ins Gewicht fallen. Auch die direkten Umweltauswirkungen sind verheerend – laut der Naturschutzorganisation WWF sei der Bau einer Piste so, als ob ein ganzer Bergabschnitt in eine Autobahn verwandelt würde: Wald wird gerodet und Böden werden planiert, was zu Überschwemmungen und Erosion führe. Schneekanonen verbrauchen Unmengen an Wasser. Und das Fahren abseits der Pisten sei purer Stress und gefährlich für Wildtiere, die im Winter eigentlich ihren Stoffwechsel herunterfahren.

Angesichts der Auswirkungen des Ski-Sports fragt sich Friedel, ob sie das überhaupt noch vertreten kann. ›Ich denke mir immer wieder: Was mache ich da eigentlich? Macht das überhaupt Sinn? Oder sollte ich nicht lieber etwas anderes machen?‹

Friedel steckt in einem Dilemma, das das ganze Land spürt. Wintersport gehört quasi zur österreichischen und süddeutschen DNA. Laut Wirtschaftskammer Österreich hat die Nachfrage in der vergangenen Saison wieder deutlich zugenommen. Winterurlauber generieren in Österreich demnach einen Bruttoumsatz von 12,6 Milliarden Euro. Gastronomie, Hotellerie und Seilbahnbranche sorgen für rund 250.000 Arbeitsplätze.

Während Wintersport vielen lieb und teuer ist, empfinden andere ihn angesichts der Klimakrise als Wahnsinn. Kein Wunder, dass die Emotionen hochkochen: Als in Gstaad in der Schweiz per Helikopter Schnee auf den grünen Pisten verteilt wird, ist die Aufregung groß. Weil sich Hubert Aiwanger, der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns, vehement gegen Forderungen von Umweltschützern wehrt, die Beschneiung zu beenden, wird im Skigebiet Sudelfeld eine Schneekanone auf seinen Spitznamen ›Hubsi‹ getauft. Und als die Letzte Generation beim Slalom-Weltcup in Gurgl orange Farbe auf dem Zielhang verschüttet, rastet Skirennläufer Henrik Kristoffersen regelrecht aus. 

Es schneit in Innsbruck, als sich Friedel in den Zoom-Call einwählt. Sie sitzt vor dem Fenster in ihrem kleinen Second-Hand-Laden, den sie gemeinsam mit einer Freundin führt und den sie gleich aufsperren muss. Friedel ist 33 Jahre alt, ursprünglich kommt sie aus der Umgebung von München. Vor 13 Jahren ist sie nach Innsbruck gezogen. ›Ich richte mein Leben schon sehr auf den Sport aus‹, sagt Friedel. Und von hier aus komme man am besten in die Berge. Direkt vor ihrer Haustür fährt der Bus ab, der sie hinauf zur Nordkette bringt, dem Gebirgszug direkt nördlich von Innsbruck. Nur eine Stunde später steht sie auf ihren Skiern, und dann: ab ins offene Gelände, fern der präparierten und gesicherten Pisten.

Mit sieben Jahren stellte sich Friedel das erste Mal auf ein Snowboard, mit 14 – zu der Zeit, als sich gerade ihre Eltern getrennt hatten – wechselte sie zu den Skiern. ›Damals war das Skifahren für mich eine Zuflucht‹, sagt Friedel. Sie fühlte sich wohl mit ihren Skifahr-Freunden, sie bekam Anerkennung und merkte, wie sehr ihr der Sport lag. Sie gewann Wettbewerbe, sogenannte Rail Contests, bei denen es darum geht, möglichst stylishe Tricks zu machen, sie wurde zu Film-Projekten eingeladen, bekam mit 20 ihren ersten Sponsor. Es lief gut, doch etwas konnte Friedel nicht übersehen: Der Free-Ski-Sport war damals noch sehr männlich dominiert. Wenn Friedel in den Bergen unterwegs war, sah sie wenig andere Frauen. Wenn sie Magazine durchblätterte, fand sie kaum Fotos oder Interviews mit Free-Skifahrerinnen.

Mit 23 Jahren wandte Friedel den Rail Contests den Rücken zu – sie wollte als Skifahrerin einen anderen Weg gehen als den üblichen. Sie gründete mit Freunden eine kleine Crew: ›El Makrell‹ – wie die im Schwarm schwimmenden, kraftvollen Fische. Jeden Winter fuhren sie gemeinsam weg, nahmen sich gegenseitig auf und schnitten hinterher einen Film, den sie im folgenden Herbst, zu Saisonbeginn, veröffentlichten.

Die Filme sind nicht nur ein Zusammenschnitt stylisher Tricks. Friedel wollte immer auch eine Botschaft senden und mit ihren Werken Frauen im Wintersport fördern. Dazu startete sie neben ihren Filmen noch andere Projekte, sie gründete den Peanut-Butter-Club, eine Ski-Community für FLINTA (ein Akronym für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen). Sie bewarb sich bei einem Video-Contest, zu dem bislang nur Männer eingeladen wurden – und wurde die erste Frau, die zugelassen wurde. Es waren solche Momente, in denen sie spürte, dass sie mit ihrem Engagement etwas bewirken kann.

In diesen Jahren, Anfang ihrer 20er, steckte Friedel ihre gesamte Zeit in das Free-Skiing. Doch je mehr Aufmerksamkeit sie dem Skifahren widmete, desto stärker wuchs eine unbehagliche Erkenntnis in ihr: Der Schnee schmolz ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – unter den Füßen weg. 

›Wenn man Ski fährt und nicht merkt, dass sich das Klima verändert, dann schaut man auf jeden Fall weg‹, sagt Friedel. Sie sehe es ja selbst: wie es den Gletschern gehe; dass sie immer stärker schmelzen; dass sie oft schneefrei seien und ihnen damit der Schutz vor der Sonneneinstrahlung fehle. Wenn es zu warm sei, fahre man ständig über Steine und riskiere, im sulzigen Schnee stecken zu bleiben.

Seit 1961 hat die Dauer der Schneedecke im Mittel über die gesamte Fläche Österreichs um 40 Tage abgenommen. Das zeigt eine Studie unter der Leitung der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Im Winter 2022 lag laut Daten von Geosphere Austria so wenig Schnee wie noch nie seit 1961. Eine kürzlich veröffentlichte Studie im Journal Nature Climate Change zeigt, dass bei zwei Grad Erderwärmung bis zu 53 Prozent der Skigebiete in Europa einem sehr hohen Risiko für Schneeknappheit ausgesetzt sein werden.

Empfindlich reagieren auch die Gletscher. Laut einer Studie, die in der Fachzeitschrift Science erschienen ist, könnten bei einer Erwärmung von 2,7 Grad (also so viel, wie bei derzeitiger Politik prognostiziert wird) bis zum Ende des Jahrhunderts zwei Drittel aller Gletscher weltweit verschwinden. In Mitteleuropa sähe es noch deutlich drastischer aus, hier könnten sie bis 2050 schon 75 Prozent ihrer Masse verlieren.

Die Schnee- und Gletscherschmelze trifft den Wintertourismus, hat aber noch viel weitreichendere Folgen. Darunter Naturkatastrophen wie Fluten durch Gletscherabbrüche. Schnee und Gletscher sind aber auch elementar für Grundwasser, Wasserqualität und Artenvielfalt. Auch die Versorgung mit Frischwasser hängt von ihnen ab. Weltweit sind zwei Milliarden Menschen weitgehend oder vollständig auf Wasser aus den Bergen angewiesen.

›Ich habe immer auch im Kopf, dass das mit dem Ski-Sport irgendwann mal vorbei sein könnte‹, sagt Friedel. Oft fragt sie sich, wie sinnvoll es ist, so viel Energie in etwas zu stecken, das bald vielleicht nicht mehr möglich sein wird. Den Gedanken, ernsthaft aufzuhören, hat sie bisher immer beiseitegeschoben. ›Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu tief in diese Gedanken rutsche und nicht zu negativ und traurig werde.‹

Anfangs war ihre Lösung, wenn sie schon nicht aufs Skifahren verzichtete, dann doch in der restlichen Zeit möglichst nachhaltig zu leben. Also achtete sie darauf, lokale Produkte zu kaufen, sie ging containern, bildete Fahrgemeinschaften, eröffnete ihren kleinen Second-Hand-Laden. In drei verschiedenen Jahren reiste sie für Filmaufnahmen nach Nordschweden und nahm jedes Mal die zweitägige Bahnfahrt auf sich.

Doch schnell wurde ihr klar, dass nachhaltiges Verhalten allein nicht ausreicht. Immer wieder stieß sie an Grenzen. Zum Beispiel, wenn sie zu großen Filmproduktionen eingeladen wurde – Chancen, auf die man als Athletin wartet. Oft finden diese Events auf anderen Kontinenten statt. Soll sie diese Chancen ziehen lassen? Oder ergreift sie sie, obwohl sie es eigentlich nicht tragbar findet, für eine Woche nach Kalifornien zu fliegen, nur um dort Ski zu fahren? 

Manchmal verzichtet sie in solchen Momenten, manchmal steigt sie doch in den Flieger. Dennoch: Sie fliege selten, sagt Friedel. Andere Skifahrer, die an Wettkämpfen teilnehmen, seien jede Woche woanders. ›Das ist total verrückt, wie die durch die Welt fliegen.‹ Das könnte man schon verbessern, wenn der internationale Ski-Verband FIS seine Wettkämpfe anders plane, glaubt Friedel. Doch sie vermutet, dass das Fliegen nur noch zunehmen werde, wenn der Schnee verschwindet. Im vergangenen Winter habe sie beobachtet, dass viele Skifahrer nach Japan, Amerika und Kanada geflogen seien, weil dort so viel Schnee lag.

›Es ist frustrierend, wenn man andere sieht, die sich gar keine Gedanken machen‹, sagt Friedel. Viele machen einfach weiter ihr Ding, sogar einige ihrer Freunde. ›Die sagen ganz direkt, dass ihr Egoismus zu groß ist und sie nicht verzichten wollen.‹ Für sie sei es schwierig, damit umzugehen, sie wolle schließlich niemanden verurteilen. ›Ich kann ja schlecht sagen: »Hey, was macht ihr da? Seid ihr alle verrückt?«‹

Manchmal verspürt Friedel so etwas wie Neid auf die Unbeschwertheit derer, die sich viel weniger Gedanken machen als sie. Vor allem aber ist sie enttäuscht, dass so viele Skifahrer tatenlos bleiben, obwohl sie die Klimafolgen hautnah miterleben. 

›Das Skifahren an sich trägt nicht dazu bei, dass wir uns verändern‹, sagt Friedel. ›Deshalb versuche ich durch meine Filme Botschaften zu finden, die bei anderen etwas bewirken, sie inspirieren oder motivieren.‹ So wie sie es mit ihren Filmprojekten macht, mit denen sie andere Frauen im Wintersport empowert. Mit ›El Makrell‹ will sie als nächstes einen Film drehen, in dem sie ihr Freeskiing mit Botschaften zur Klimakrise vereint. Der könnte dann vielleicht in eine ähnliche Richtung gehen wie ›Stanice‹, der Kurzfilm über ihre Osteuropa-Reise. Auch der hatte schon verschiedene Botschaften verpackt, den Mistkübel gefeiert genauso wie das Windrad, die Tram in Sarajevo genauso wie das Zugfahren durch Osteuropa.

›Ich will nicht einfach nur Ski fahren, ich will damit zu etwas Wichtigem beitragen‹, sagt Friedel. Als Athletin hat sie sich ihren ganz eigenen Weg gebahnt, sie verbindet Sport mit Kunst und Politik. ›Nur noch Skifilme produzieren – ohne tiefere Botschaft – das könnte ich gar nicht mehr.‹ •