Nach dem Beben ist vor der Flut

Die Opfer kleinerer Naturkatastrophen bekommen zu wenig Aufmerksamkeit und Hilfe. Das zwingt sie oft, an unsicheren Orten zu bleiben. Das nächste Unglück trifft dann auf bereits geschwächte Gemeinschaften wie jene in Perus nördlicher Amazonasregion.

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Adaption:
Katharina Brunner & Manuel Kronenberg
DATUM Ausgabe November 2022

María Nancy*, eine Überlebende der Katastrophe, erzählt, dass sie immer noch unter Schock steht. Am 11. Dezember 2021 geriet der Hang, auf dem ihr Dorf San Isidro liegt, ins Rutschen. ›Ich hatte mein Haus erst seit zwei Jahren‹, sagt die 49-jährige Witwe und dreifache Mutter und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. ›Es war ein Traum, dieses Haus zu haben.‹ 

Auch Monate nach dem Erdbeben mit der Stärke 7,5 ist die Verwüstung noch zu sehen. Das Amazonasgebiet war das Epizentrum des Bebens mit einer Rekordtiefe von 112 Kilometer: Lange und breite Risse durchziehen die wenigen Hauptstraßen von San Isidro und verlaufen sowohl bergab als auch quer zum Hang. Daneben stehen die eingestürzten und gefährlich rissigen Gebäude unheimlich leer. ›Ich habe hart für das alles gearbeitet und dafür, meine Kinder allein großzuziehen‹, sagt María Nancy, die Zebu-Kühe züchtet, vor dem Gerüst ihres ehemaligen Hauses. ›Um drei Uhr morgens begann sich das Haus mit Wasser zu füllen, und ich musste fliehen.‹ Die versprochene staatliche Hilfe für das nördliche Amazonasgebiet lässt immer noch auf sich warten. 

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich weltweit jedes Jahr circa 350 bis 500 mittlere bis große Umweltkatastrophen ereignet. Außerhalb der betroffenen Gebiete bekommen die Katastrophen nur wenig Aufmerksamkeit. Weil die Hilfsgelder für den Wiederaufbau oder einen Neubeginn in sichereren Gebieten schwer zu bekommen sind, sehen sich Überlebende oft gezwungen, an denselben unsicheren Orten zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Künftige Katastrophen treffen die ohnehin schon geschwächten Gemeinschaften umso mehr. 

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des UN-Büros für Katastrophenvorsorge (UNDRR) sagt voraus, dass die Zahl der mittleren bis größeren Katastrophen bis 2030 auf etwa 560 pro Jahr ansteigen wird. Dazu gehören schwere Katastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche, klima- und wetterbedingte Katastrophen sowie Ausbrüche von Schädlingsbefall und Epidemien, die eine Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum massiv daran hindern zu funktionieren. ›Katastrophen sind inzwischen eine der Hauptursachen für erzwungene Migration und Vertreibung weltweit‹, erklärt António Vitorino, Generaldirektor der UN-Migrationsbehörde IOM, auf einem Forum zur Risikominderung in Bali.

Obwohl Naturkatastrophen, Krankheitsausbrüche, Chemieunfälle und Klimaereignisse überall auftreten können, treffen sie die Ärmsten unverhältnismäßig stark. In den letzten zehn Jahren haben die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen im Durchschnitt etwa ein Prozent ihres BIP verloren, verglichen mit nur 0,1 bis 0,2 Prozent in Ländern mit höherem Einkommen. Die Vereinten Nationen sagen voraus, dass die Auswirkungen der Klimakrise bis 2030 je nachdem, wie sehr sich die Erde erwärmen wird, weitere 37,6 Millionen bis 100,7 Millionen Menschen in die Armut treiben werden.

Was die Vernachlässigung von Katastrophen bedeutet, zeigt ein Blick nach Peru, in seine nördliche Amazonasregion. Rund 13.000 Menschen in der Region, die als Ceja de Selva, ›Augenbraue des Dschungels‹, bekannt ist, fehlten in den Monaten nach einem Erdbeben der Stärke 7,5 die Hilfsgüter. Das Beben, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen, erregte zunächst Aufmerksamkeit in den nationalen Medien. Der peruanische Präsident Pedro Castillo versprach damals, besonders gefährdete Bewohner per Flugzeug in sicherere Gebiete zu bringen. Nach und nach schwand die Aufmerksamkeit dafür. Einige Wochen später ließen heftige saisonale Regenfälle im Dezember die Erde rutschen, die man zuvor für die Landwirtschaft abgeholzt hatte und die durch die seismische Aktivität geschwächt war. Wasser trat wieder über die Ufer des Flusses und schwemmte ein kurzfristig aufgestelltes Lager für Überlebende der Erdbeben weg. Mindestens ein Mensch kam bei der Überschwemmung des Lagers ums Leben. In den darauffolgenden Monaten zerstörten Erdrutsche und Überschwemmungen weitere Dörfer in der Region, am Ende waren es acht an der Zahl. Das Erdbeben zu Beginn hatte eine ganze Serie an Folgen. Anfang März trifft es dann auch das nicht weit entfernte Dorf Guayacán: 90 Hektar Land stürzen von den darüber liegenden Hügeln auf das Dorf. Die Bewohnerinnen und Bewohner verlieren ihre Häuser, ihre Lebensgrundlage, den Zugang zu sauberem Wasser und ihre Schule.

Samuel, ein Hilfsarbeiter aus El Salao, einem benachbarten Dorf, hält an seinem Zuhause fest: Er will nicht weit wegziehen. ›Die Menschen im übrigen Peru wissen nicht, was hier passiert‹, sagt er und meint den reißenden Fluss Utcubamba, der sein Zuhause niedergerissen hat. Er und seine Nachbarn haben ihre Häuser und ihr Ackerland verloren, nachdem ein Erdbeben die Dämme des mächtigen Flusses gebrochen hatte. ›Als bescheidene Menschen, die wir sind, schämen wir uns für unsere eigene Situation‹, sagt Samuel. ›Manchmal haben wir Angst, zur Presse zu gehen, um unsere Geschichten zu erzählen. Wir haben Rechte, aber manchmal sind wir schlecht darüber informiert.‹ Aus Frustration über die schleppende Hilfe gibt Samuel seine Ersparnisse für die Umsiedlung in ein neu gebautes Bambushaus aus. Weil er an seiner Heimatregion hängt, wohnt er nun wieder in der Nähe des Flusses in einem Gebiet, das durch künftige Überschwemmungen gefährdet ist. Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten berichteten die Medien in den Wochen nach dem Erdbeben und seinen Folgen kaum noch über das Katastrophengebiet. Die Hilfe ist so gut wie verschwunden. Etwa 2.000 Menschen lebten in den Monaten danach in ­Zelten. Und da es keine bewohnbaren Behelfsunterkünfte gibt, sind viele Familien trotz der Gefahr weiterer Erdrutsche in ihre Häuser und auf ihr Land zurückgekehrt. 

María Nancy will nicht mit ihrer 90-jährigen Mutter in eines der Zelte ziehen, die unweit ihres zerstörten Hauses stehen. Die Zelte in den Tropen seien nicht für gefährdete Bevölkerungsgruppen geeignet: Tagsüber überhitzen sie, und nachts können sie wegen der Dengue übertragenden Moskitos nicht gelüftet werden, erzählt María Nancy. Außerdem befinden sich die Zelte in einem Gebiet, das anfällig für Erdrutsche ist. 

Um die Zelte zu umgehen, schließen sie sich ihrem Bruder an: Er hat notdürftig eine Unterkunft gebaut. Laut Melissa Allemant, Leiterin der humanitären Hilfe bei Save the Children in Peru, führen die durch die Klimakrise verursachten stärkeren Regenfälle in Verbindung mit der Abholzung dazu, dass die Region einem größeren Risiko von Erdrutschen ausgesetzt ist: ›Ich habe noch nie erlebt, dass Menschen so oft vertrieben wurden‹, sagt sie.

Ende April 2022 versuchte Allemant, die Bewohner von San Isidro zu ermutigen, ihre gefährdeten Häuser zu verlassen. Sie riet ihnen, in sicherere Gebiete, die für eine vorübergehende Umsiedlung vorgesehen waren, zu ziehen. Wie der Hilfsarbeiter Samuel aus dem Dorf El Salao wollten auch hier viele in der Gemeinschaft lieber in der Nähe ihrer alten Häuser und Plantagen bleiben. Ob die Regierung die notwendige Unterstützung an anderen Orten gewährt, erschien ihnen unsicher. 

Save the Children unterstützte damals mehr als 1.500 Überlebende der Katastrophe mit Geldtransfers, Wasser- und Sanitäreinrichtungen und Bildungsmaßnahmen gemeinsam mit World Vision und dem peruanischen Roten Kreuz. Währenddessen fokussierte die Regierung darauf, Zeltlager zu errichten. Die Einsatzkräfte sind in solchen Fällen aber nur für eine begrenzte Zeit tätig. Danach ist es Sache des peruanischen Staates und am Ende der Überlebenden selbst, eine längerfristige Lösung zu finden. ›Wenn nicht‹, sagt Allemant, ›reproduzieren wir nur einen Teufelskreis in der humanitären Hilfe.‹

Felipe Pérez Detquizán, der Direktor des peruanischen Nationalen Instituts für Katastrophenhilfe (Indeci), wehrt sich gegen die Kritik an den Maßnahmen der Regierung im Amazonasgebiet. Es sei schwierig, für provisorische Häuser Standorte zu finden, die nahe genug an den alten Häusern der Bewohner liegen und gleichzeitig sicher und erschwinglich für die Gemeinden sind. 

Der Financial Tracking Service der Vereinten Nationen weist auf die Ungleichheiten bei den Zusagen hin: Fast 50 Prozent aller internationalen Nothilfe-Gelder fließen in diesem Jahr in nur fünf langwierige – und größtenteils konfliktbedingte – Krisen. Florent Del Pinto, Leiter der Nothilfe-Abteilung der Internationalen Föderationen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, ist besorgt darüber, wie wenig Mittel in weniger bekannte Notsituationen fließen. ›Auf der Weltbühne gibt es Schlagzeilen über den Klimawandel, aber es gibt nicht viele Schlagzeilen über kleine Nothilfe-Einsätze, die tatsächlich global mit Klimafragen verbunden sind‹, sagt er. 

Ricardo Mena, der Direktor des Büros der Vereinten Nationen für Katastrophenvorsorge (UNDRR), erklärt: ›Nur fünf von hundert Dollar, die für humanitäre Hilfe ausgegeben werden, fließen in Maßnahmen zur Verringerung des Katastrophenrisikos.‹ Dazu gehören zum Beispiel der Bau von erdbebensicheren Häusern und bessere Entwässerungssysteme – Strukturen, die helfen, sich an die Auswirkungen der Klimakrise anzupassen. Laut Mena sind Leitlinien dafür in Planung, die präventive Risiko-Verringerung von Katastrophen in die humanitäre Hilfe zu integrieren. 

Für die Überlebenden im Amazonasgebiet, die derzeit bleiben, wo sie sind und auf Hilfe warten, geht dies wahrscheinlich nicht schnell genug. Die Lager wurden Ende August geräumt, aber viele der Menschen wurden nicht in provisorische Unterkünfte umgesiedelt, da der Regierung nach eigenen Angaben das Geld fehlte, um alle benötigten Fertighäuser bereitzustellen. Stattdessen erhalten sie eine Entschädigung von 125 Dollar für die Miete an einem sichereren Ort als dem, von dem sie gekommen sind. Viele fühlen sich vergessen, die Zukunft macht ihnen Angst. In El Salao erklärt Samuel, der in den niedrig gelegenen Reisfeldern in der Nähe arbeitet, dass er und seine Familie hoffen, dass neue Befestigungen entlang des Flusses gebaut werden, um weitere Überschwemmungen zu verhindern und so ihr Haus zu schützen. Sie behalten den Fluss genau im Auge und kehren in das Notzeltlager zurück, sobald der Wasserstand steigt. ›Diese Ereignisse lassen uns nicht zur Ruhe kommen‹, sagt er. ›Wir sind immer noch sehr besorgt.‹ •

Den Originaltext lesen Sie auf thenew­humanitarian.org: Most aid funds go to just a few disasters. What about the rest? The New Humanitarian ist eine unabhängige Non-Profit-Redaktion, spezialisiert auf Berichterstattung über humanitäre Krisen und ist nicht für die Richti­gkeit der Übersetzung verantwortlich.