Beziehungskrise

Längst weiß der Großteil der Gesellschaft, dass sein Lebensstil die Natur zerstört, trotzdem ändert sich zu wenig. Wie kann das Mensch-Natur-Verhältnis wieder heil werden?

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Oktober 2023

Die Wolken hängen tief, die Wiener Donauinsel erscheint grau und still an diesem Sonntagvormittag. Doch eine Wiese ist ziemlich lebendig. Eine ganze Kindertruppe springt von der ausgerollten Plane über der Wiese, die noch nass vom Regen ist, hoch und schart sich um die Attraktion: ›Ein Frosch! Ich hab einen Frosch!‹, ruft ein aufgeregtes Kind. Alle Augen richten sich auf Yoni. In ihren fünfjährigen Händen sitzt ein junger Frosch, in ihrem Gesicht lässt sich irgendetwas zwischen Aufregung und Unsicherheit ablesen. Die blauen Augen glänzen.

Schnell eilt ein älterer Mann herbei, die Brille schief, die Haare zerzaust, sein Auftritt sitzt. Gebannt schauen ihn alle an, während er den Frosch an den kleinen Füßlein kopfüber in die Luft hält: ›So soll man einen Frosch halten, so tut man ihm nicht weh.‹ Der Frosch kommt in eine kleine Becherlupe. Nachdem ihn alle nochmal genau angesehen haben, nach vielen ›ohs‹ und ›ahs‹ und ›Schau mal, Mama!‹, wird er freigesetzt in den nahen Waldstreifen. Yoni sieht ihm nach, wie auch die anderen Kinder. Noch drei Stunden später wird sie von ihrer Entdeckung und dem Gefühl in den Händen erzählen. ›Die Kinder brauchen was zum Angreifen, um zu ver­stehen, was Natur und Artenvielfalt bedeutet‹, sagt Silvia Wilde. Nach der spontanen Show-Einlage ihres Kollegen übernimmt sie den Workshop, in dem Kinder Leben im Wasser erforschen. Ihr Nachname könnte nicht besser passen. Seit 20 Jahren leitet Wilde kostenlose Workshops wie diesen für den Wiener Verein Umweltspürnasen-Club, der schon 1983 gegründet wurde. 

Dass Yoni einen Frosch in den Händen hält, durch den Dreck wühlt, barfuß am Donauufer im Wasser steht und nach Lebewesen Ausschau hält – das passiert selten. Mit ihrer Familie wohnt sie in der Josefstadt, dem achten Wiener Gemeindebezirk. Es ist der Bezirk mit den wenigsten Grünflächen Wiens. 

Wie viel Zeit Menschen in der Natur verbringen, beeinflusst ihre Beziehung zu ihr. Und die wiederum ist ausschlaggebend dafür, wie bereit Menschen für gesellschaftliche Veränderung sind, die der Natur zugutekommt. Nach all den Jahrzehnten, in denen die Grenzen der Natur überschritten wurden, um gewisse Lebensstandards zu schaffen und zu halten, stellt sich die Frage: Wie können wir Menschen wieder wirklich Freunde mit der Natur werden? 

›Wenn wir uns die Krisen anschauen, scheint die Mensch-Natur-Beziehung zu scheitern‹, sagt die Umweltpsychologin Leonie Fian. Im ersten Bezirk Wiens, umgeben von Beton und Konsum, arbeitet sie an ihrem PhD. In der Umweltpsychologie versucht man die Interaktionen zwischen Menschen und Natur zu erforschen, und zwar in beide Richtungen. Wie wirkt der Mensch auf die Natur und wie wirkt Natur auf den Menschen? 

Manchmal bekommt Fian auf ihre Jobbeschreibung die Rückfrage, ›ob die Umweltpsychologie was Esoterisches ist oder ob bei uns dann irgendwie Bäume auf der roten Couch liegen‹, erzählt sie und lacht. Bäume hatte sie noch nie auf der Couch, eher fragt sie in ihren Studien Menschen, wie sehr sie sich mit Natur verbunden fühlen und wie das mit der Bereitschaft, umweltfreundlich zu leben, zusammenhängt. Zum Beispiel erhebt sie, wie sehr Menschen Natur als Teil ihrer Identität verstehen. Die verallgemeinernde Aussage, dass die Menschheit heute weniger naturverbunden sei, lässt sich von der Umweltpsychologie nicht belegen. Dafür gibt es zu wenig Langzeitstudien. ›Klar ist aber, dass sich Naturverbundenheit durch Naturkontakt entwickelt‹, sagt Fian.  Und: Naturverbundenheit hänge mit der Urbanisierung zusammen. Global leben 56,2 Prozent der Bevölkerung in Städten, in Österreich waren es 2021 59 Prozent. 2050 sollen es laut Prognosen global sogar um 12 Prozent mehr sein.

Natur in der Stadt ist möglich, allerdings meist sehr kontrolliert und geordnet. Statt wilder Wiesen und Wälder gibt es hier eher einzeln gepflanzte Bäume, Sträucher, Blumen. Und stets viel mehr Beton als Grün. Einfach so in der Wiese knien, Wasserlibellen und Fröschen begegnen, das kann Yoni im Alltag nicht machen. Ausflüge in die Natur gibt’s, wenn, dann am Wochenende. ›Wir leben nicht sehr naturnah, würde ich sagen. Eigentlich wissen wir von all dem Leben im Wasser selbst nicht so viel‹, erzählt Yonis Vater Nikolaus Gregor-Patera. Beim mittlerweile zweiten Besuch mit der fünfköpfigen Familie bei den Umweltspürnasen hat auch er dazugelernt. Vor einem halben Jahr schon waren sie am Wolfersberg mit den Umweltspürnasen (USPN) unterwegs gewesen. ›Salamander haben wir dort gefunden‹, erinnert sich die älteste Tochter Anouk. ›Und in der Erde gewühlt‹, fügt die Mutter hinzu. Der jüngste, Liam, nickt mit vollem Mund, während er seine Jause verspeist.

›Es ist ratsam für Eltern, ihre Kinder dazu zu motivieren, in der Natur zu sein‹, sagt Umweltpsychologin Fian. ›Aber wenn man eine alleinerziehende Mutter in einer Stadtwohnung, die finanziell gerade so über die Runden kommt, auch noch fragt, ob das Kind eh genug draußen war, dann wird schnell klar, dass das auch politisch ist, und dass strukturelle Änderungen vor allem im Bildungssystem, mit mehr Zeit draußen, notwendig wären.‹ Zugang zu Natur ist auch eine Frage von sozialer Ungleichheit. Ein Kind aus privilegiertem Elternhaus, das jedes Jahr ans Meer reist und wochenends Zeit in den Bergen verbringt, hat zumindest theoretisch mehr Chancen darauf, Naturverbundenheit zu entwickeln. ›Gleichzeitig sehen wir, dass mehr Einkommen nicht direkt zu mehr Naturverbundenheit führt‹, sagt Fian. Äußere Umstände wie Erreichbarkeit und Nähe sind zwar wichtige Faktoren, um Naturverbundenheit möglich zu machen. Dennoch hat Fian am Fall Österreich herausgefunden, dass die Natur, auch wenn die räumliche Nähe hier im internationalen Vergleich größer sei, oft nicht genutzt wird. 

Eine Folge davon, wenig Erfahrungen oder Zeit mit der Natur zu haben, nennt die Wissenschaft ›Extinction of Experience‹. Also ein Aussterben von Erfahrungen mit der Natur, und das hat Folgen für unsere Gesundheit, denn Zeit in der Natur ist gut für die Seele und geht meist auch Hand in Hand mit Bewegung. Gleichzeitig wirkt es sich auf unseren Umgang mit Natur aus: ›Weil wir immer weniger Erfahrung mit der Natur haben, löst sie weniger positive Assoziationen in uns aus. Sie ist uns dann weniger wichtig, es kommt zu einer Abwertung von Natur, sie wird leichter zu etwas, das zerstört werden kann‹, sagt Fian. 

Ein Aussterben der Naturerfahrungen sieht Silvia Wilde in jeder der Gruppen, die sie in die Natur begleitet. Die Zeit mit ihr in der Natur sei für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Schulklassen, die sie leitet, eine Ausnahme. Früher hätte Wilde öfter gehört, dass die Freizeit draußen verbracht wird.  ›Heute sind die meisten nach der Schule zu Hause am Handy, am Tablet, oder beim Einkaufen, in Konsumräumen‹, hört Wilde von den Kindern und Lehrenden. Zu Beginn der Workshops beobachtet Wilde einen großen Abstand zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einerseits und den Insekten, Wassertieren oder Schnecken andererseits. Sie würden sich ekeln oder sie abschütteln wollen. ›Im Laufe der Zeit strecken sie die Hände her und wollen die Tiere berühren. Für viele ist es das erste Mal, dass sie in Kontakt treten‹, erzählt Wilde. Am Ufer der Donau sitzt die studierte Forstwirtin am Boden, während die Kinder ihr aufgeregt immer wieder ihre Beute in kleinen Wannen, gefüllt mit Wasser und Lebewesen, entgegenstrecken. ›Was sind die roten Punkte da drin?‹, ruft eine Kinderstimme. Eine Mutter murmelt, das würde sie auch interessieren, fast überall seien die roten, kaum sichtbaren Punkte zu sehen. Mit ihrer Fingerspitze holt Wilde einen ›Punkt‹ heraus, auf ihrem Fingernagel sieht man ihn nun besser. Aus den Punkten werden mit Wildes Erklärung Lebewesen: Wassermilben. Gleich darauf gibt Wilde sie wieder zurück ins Wasser der Becherlupe, damit die Milben nicht sterben. Die Eltern rundherum nicken erstaunt. ›Manche Gruppen treffen sich regelmäßig. Da merke ich einen Unterschied bei den Kindern. Sie wissen mehr über die Natur, verhalten sich anders mit der Zeit, werden offener‹, erzählt Wilde. Das seien aber oft die Familien, die ohnehin mit mehr Bewusstsein für Natur leben, in ihren Gärten etwa Insekten mehr Lebensraum bieten wollen. Im Sommer hält sie sieben Tage die Woche Workshops. Die Angebote der USPN sind meist kostenlos, sie arbeiten etwa mit der Abteilung für Gewässer oder auch der Umweltanwaltschaft in Wien zusammen. In all den Jahren hat Wilde den Verlust von Arten stetig miterlebt. Wiesen und Tümpel, die für sie vom Verlust der Arten erzählen, sind für die Kinder normal, der Status quo. Sie kennen die Wiesen mit Schmetterlingsschwärmen, zahlreichen Bienen, Tümpeln voller Insekten und schwirrenden Libellen nicht: ›Es macht wenig Sinn, bei Kindern den Fokus nur auf den Verlust von Artenvielfalt zu legen. Ja, früher gab es viel mehr Glühwürmchen, doch sie freuen sich über die zwei, die sie einmal im Sommer sehen. Diese Freude muss man ihnen lassen.‹ Wichtig für Wilde: zu vermitteln, warum das, was da ist, kostbar und schützenswert ist. 

Wie kann diese Erkenntnis auch in der gesamten Gesellschaft ankommen? Dafür müsse sich unsere Beziehung zur Natur und damit auch ein ganzes Weltbild grundlegend ändern. Die deutsche Wissenschaftlerin Martina Artmann ist überzeugt, dass ein tiefer innerer Wandel nötig ist. Sie arbeitet in ihrem Forschungsprojekt, gefördert von der Leibniz-Gemeinschaft, zur Mensch-Natur-Resonanz in Städten. 

Die Resonanztheorie kommt aus der Soziologie. Hartmut Rosa hat den Begriff geprägt und geht davon aus, dass die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt zunehmend verstummt. Die Entwicklung gehe viele Jahrhunderte zurück und sei eine Begleiterscheinung der Aufklärung, sagt auch Artmann. ›Die Vernunft steht über allem und über sie verfügt nur der Mensch. Dadurch kommt es eben auch zu einer Spaltung zwischen Mensch und Natur‹, erklärt Artmann. Der Mensch sehe die Natur als lebloses Objekt an, als verfügbare Ressource. Damit wir Resonanz zwischen Natur und uns Menschen fördern können, müssen wir uns im Sinne einer partnerschaftlichen Beziehung auf Augenhöhe begegnen, schlägt Artmann vor: ›Partnerschaft ist immer konkret. Das heißt, ich muss auch rausgehen in die Natur, damit ich ihr begegnen kann, damit sie mich berühren kann und als beseeltes Lebewesen wahrgenommen wird. Damit Resonanz wieder möglich wird. Da geht es wirklich auch darum, die Erde zu berühren und sich dreckig zu machen.‹ 

 Natur als beseelt, als handlungsfähig anzusehen, das haben Artmann oder Rosa nicht erfunden. In anderen Kulturen der Erde, bei indigenen Völkern, ist es seit jeher Teil der Weltanschauung. Im Forschungsprojekt von Artmann werden derzeit auch Übungen, die sich an indigenen Ritualen in der Natur orientieren, getestet. Die Forschungsteilnehmerinnen in Dresden werden über fünf Wochen lang per App einmal pro Woche durch eine Meditation geleitet, die mit indigenen Ontologien und Storytelling über Natur arbeitet, oder müssen Aufgaben in der Stadtnatur lösen. Vor, während und nach den Ritualen werden Fragebögen beantwortet, um Änderungen in der Gefühlswelt und Wahrnehmung zu erkennen. In ein paar Monaten wird die Auswertung der Ergebnisse vorliegen, so Artmann. 

Auf der Donauinsel haben Yoni und ihre Geschwister zwar kein Ritual durchlebt, aber der kleine Fisch, den Yoni am Ende noch im Kescher hat, der hat sie berührt und sie hat ihn berührt. ›Er ist noch so klein, dass man nicht sagen kann, welcher Fisch es ist‹, erzählt sie aufgeregt, mit leuchtenden Augen. Danach läuft Yoni zum Ufer, lässt den kleinen Fisch wieder schwimmen und schaut ihm nach. •